Dass die Demo­kra­tie als “schlech­tes­te Staats­form, aus­ge­nom­men alle andern” (Chur­chill) heu­te mehr denn je auf unsi­che­rem Grund steht, wenn nicht sogar als nicht-wün­schens­wert abge­lehnt wird, ist seit län­ge­rem offen­sicht­lich. Die­ser unsi­che­re Grund zeigt sich in Euro­pa in einer schlei­chen­den Ero­die­rung rechts­staat­li­cher Prin­zi­pi­en, mani­fest in Polen oder in Ungarn mit sei­ner “gelenk­ten Demo­kra­tie”, oder in den USA in einem Par­tei­en­ant­ago­nis­mus, der das Mut­ter­land der moder­nen Demo­kra­tie frü­her oder spä­ter zu zer­reis­sen droht. In Frank­reich drängt ein Rechts­ex­tre­mis­mus an die Macht, der, ein­mal tat­säch­lich an der Macht, die Euro­päi­sche Uni­on in ihren Grund­fes­ten erschüt­tern würde.

Aber das ist noch nicht alles. Die Kri­tik geht heu­te viel tie­fer. Para­dig­ma­tisch sei auf das Buch des ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik­wis­sen­schaft­lers Shel­don S. Wolin, “Umge­kehr­ter Tota­li­ta­ris­mus: Fak­ti­sche Macht­ver­hält­nis­se und ihre zer­stö­re­ri­schen Aus­wir­kun­gen auf unse­re Demo­kra­tie” ver­wie­sen. Wolin pos­tu­liert eine radi­ka­le Unver­träg­lich­keit zwi­schen Kapi­ta­lis­mus und ech­ter Demokratie.
Unter »umge­kehr­ten Tota­li­ta­ris­mus« ver­steht Wolin ein Sys­tem, »das vor­gibt, das Gegen­teil von dem zu sein, was es in Wirk­lich­keit ist«. Libe­ra­le kapi­ta­lis­ti­sche Demo­kra­tien sei­en also das dia­me­tra­le Gegen­teil von dem, wor­auf die Leit­idee von Demo­kra­tie zielt. Die­ser grund­le­gen­de inne­re Wider­spruch zwi­schen »kapi­ta­lis­ti­scher Demo­kra­tie« und Demo­kra­tie wird durch die Ent­wick­lung einer »gelenk­ten Demo­kra­tie« ver­deckt und unsicht­bar gemacht.

Der inzwi­schen eme­ri­tier­te Pro­fes­sor für Sozio­lo­gie and der Uni­ver­si­tät Basel, Ueli Mäder, der die­ses Jahr mit dem Erich Fromm-Preis aus­ge­zeich­net wird, publi­zier­te 2015 im Rot­punkt-Ver­lag  sein Buch “macht+ch. Geld und Macht in der Schweiz”. Aus dem Klappentext:
Wer hat wie­viel Macht in der Schweiz? Wer nimmt sei­nen Ein­fluss wie wahr? Und wel­che Rol­le spielt dabei das Geld? Ueli Mäder ana­ly­siert das Zusam­men­spiel wirt­schaft­li­cher, poli­ti­scher und  gesell­schaft­li­cher Dyna­mi­ken. Er unter­sucht, wie sich Macht kon­kret mani­fes­tiert und herr­schaft­lich eta­bliert. Im Fokus ste­hen die Mecha­nis­men der Macht, wie sie sich nicht nur bei den gros­sen Ban­ken und Kon­zer­nen auf­zei­gen las­sen, son­dern auch im Gewer­be und bei den Gewerk­schaf­ten, in Denk­fa­bri­ken und Netz­wer­ken, in Medi­en sowie in Poli­tik und Verwaltung.

Ein wei­te­rer Autor, der zur Demo­kra­tie in der Schweiz in sei­nem Buch “Vol­kes Wil­le? War­um wir mehr Demo­kra­tie brau­chen” ein paar unbe­que­me Fra­gen stellt, ist Ste­fan How­ald. Aus dem Klappentext:
Die Demo­kra­tie ist in aller Mun­de — und in der Kri­se. Im Wes­ten füh­ren Apa­thie, Kor­rup­ti­on, Per­so­na­li­sie­rung und Medi­a­li­sie­rung der Poli­tik zur Post­de­mo­kra­tie. Bei der Bewäl­ti­gung der Finanz­markt­kri­se hat die Poli­tik ihre Hand­lungs­mög­lich­kei­ten wei­ter an die Wirt­schaft abge­tre­ten. Umge­kehrt ist Occu­py gegen die Macht der Finan­zo­lig­ar­chie ange­tre­ten und haben Volks­be­we­gun­gen im Ara­bi­schen Früh­ling im Namen der Demo­kra­tie auto­ri­tä­re und dik­ta­to­ri­sche Regime gestürzt. (Das Buch erschien 2014. Was dar­aus gewor­den ist, wis­sen wir …). Das Buch han­delt von den Mög­lich­kei­ten und Gren­zen der Demo­kra­tie: Wer darf am demo­kra­ti­schen Pro­zess teil­ha­ben? Wo fin­det er statt? Wor­über wird ver­han­delt? In wel­chen For­men? … Demo­kra­tie ist nur wirk­lich, wenn sie ste­tig erneu­ert und erwei­tert wird. Doch heu­te ist das Gegen­teil der Fall: Sta­gna­ti­on, Kri­se der Demo­kra­tie, Ent­wer­tung demo­kra­ti­scher Pro­zes­se. Wir brau­chen eine Demo­kra­ti­sie­rung der Wirt­schaft, trans­na­tio­na­le Bür­ger­rech­te und neue direkt­de­mo­kra­ti­sche Formen.

Die Demo­kra­tie ist in aller Mun­de  … Aber was ist dar­un­ter über­haupt zu ver­ste­hen? Na klar: Volks­herr­schaft! — Schön, aber was heisst denn nun “Volks­herr­schaft”?

Die­ser Fra­ge hat sich Regi­nald Grü­nen­berg in sei­nem Buch “Poli­ti­sche Sub­jek­ti­vi­tät. Der lan­ge Weg vom Unter­tan zum Bür­ger. Begrün­dung des demo­kra­ti­schen Indi­vi­dua­lis­mus” aus­führ­lich gewid­met, und das birsfaelder.li hat es hier vorgestellt.

Ein wei­te­rer inter­es­san­ter Autor, der sich mit Geschich­te, Wesen und Funk­ti­on der Demo­kra­tie aus­ein­an­der­setzt, ist der fran­zö­si­sche His­to­ri­ker Pierre Ron­s­an­val­lon. mit Titeln wie “Demo­cra­cy, Past and Future”, “The Socie­ty of Equals” et “Le bon gouvernement”.

Da der birsfaelder.li-Schreiberling zwar über kei­ne aka­de­mi­schen Wei­hen ver­fügt, aber der Ansicht ist, es sei in der heu­ti­gen Umbruchs­zeit auch für Lai­en not­wen­dig, sich obi­gen Fra­gen immer wie­der neu zu stel­len, wird er in den nächs­ten Fol­gen ein paar Lese­früch­te aus den erwähn­ten Wer­ken prä­sen­tie­ren in der Hoff­nung, auch ein paar birfaelder.li-Leserinnen und ‑Leser zum Mit­den­ken anzuregen.

Die nächs­te Fol­ge erscheint wie gewohnt am kom­men­den Frei­tag, den 22. April

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