Hören wir Marianne Williamson noch etwas weiter zu. In ihrem Newsweek-Essai vom November 2021 analysiert sie, warum die amerikanische Demokratie auch nach der Abwahl von Donald Trump noch lange nicht aus der Gefahrenzone entkommen ist:
Autoritäre Kräfte sind heute auf dem Vormarsch — nicht nur in Ländern wie Ungarn, Polen, der Türkei, den Philippinen und in etablierten Ländern wie Russland und China. Sie sind auch in den Vereinigten Staaten auf dem Vormarsch.
Autoritäre Bewegungen sind wie ein Virus, der dazu neigt, sich weltweit auszubreiten. Aber im Gegensatz zu Viren, die den Körper befallen, ist der Autoritarismus ein Virus, der nicht nur seinen Wirt angreift. In vielen Fällen wird er geradezu eingeladen. Wie bei Krankheiten des Immunsystems, die auftreten, wenn Immunzellen beginnen, den Körper anzugreifen, den sie eigentlich schützen sollen, sind Millionen amerikanischer Bürger auf perverse Weise motiviert, den Autoritarismus anzunehmen, ja sie scheinen ihn sogar zu genießen. Und damit auch, unsere Demokratie anzugreifen. …
Die Bewegung, die Trump ins Leben gerufen hat, ist lebendig und gesund, nicht zerstört durch die Wahlniederlage des ehemaligen Präsidenten, sondern, wenn überhaupt, sogar noch motivierter. Sie marschiert weiter und setzt die Arbeit dort fort, wo Trump aufgehört hat. Von Gesetzen zur Unterdrückung von Wählern bis hin zur Säuberung der Republikanischen Partei von allen, die auch nur den Hauch von Illoyalität gegenüber dem ehemaligen Präsidenten an den Tag legen, wächst die autoritäre Bewegung, die der Ex-Präsident hervorgebracht hat, mit ihren Tentakeln und metastasiert.
So wie nur wenige gedacht hätten, dass ein einzelner Mann diesem Land innerhalb von vier Jahren so viel Schaden zufügen könnte, hätte auch niemand das Ausmaß seines anhaltenden Einflusses seit seinem Ausscheiden aus dem Amt vorhersagen können. Von seinem politischen Außenposten in Mar-a-Lago aus, ohne Facebook, ohne Twitter, ohne irgendeine politische Macht, übt er weiterhin unerklärlichen Einfluss auf Millionen von Menschen aus.
Schwarzmalerei? Wir werden darüber in weniger als drei Jahren entscheiden können. Williamson sieht die USA an einem Scheideweg, wie ihre schonungslose Analyse deutlich macht:
Von der Sklaverei über die institutionalisierte Unterdrückung von Frauen und Farbigen bis hin zum Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern haben die Vereinigten Staaten im Laufe ihrer Geschichte einen ständigen Kampf zwischen den Dämonen der Grausamkeit und Unterdrückung und den Engeln der Gerechtigkeit und Freiheit erlebt. Aber unser Traum ist eine Welt, in der die Engel unserer besseren Natur gesiegt haben. Es ist der Kampf selbst, der dem Traum seine Bedeutung verleiht. Von der Abolition über die Frauenwahlrechtsbewegung bis hin zur Bürgerrechtsbewegung haben Menschen gekämpft, geopfert und sind in vielen Fällen gestorben, damit der Traum weiterleben kann.
Jetzt steht der Kampf wieder vor der Tür, so bösartig und bedrohlich wie zu keiner Zeit in unserer Geschichte. Der Autoritarismus konzentriert sich heute nicht auf eine bestimmte institutionelle Realität, sondern hat seine Tentakel an vielen Stellen: von Gesetzen zur Unterdrückung von Wählern, zur Dämonisierung der Presse, zur Unterdrückung von Gewerkschaften, zur Korruption unserer politischen Institutionen, zur Kontrolle von Unternehmen über so gut wie alles, zur Brutalität der Polizei, zu systemischem Rassismus und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und mehr. Am erschreckendsten von allem ist jedoch die Verherrlichung eines Mannes — trotz aller Vernunft -, dessen Lügen so gut dokumentiert sind, dessen Korruption so klar zu Tage tritt und dessen völlige Missachtung der Grundsätze der Demokratie nicht deutlicher sein könnte.
Die uralte Verlockung des Autoritarismus infiziert unseren politischen Körper und inspiriert Millionen von Amerikanern, das kostbarste Geschenk, das uns vermacht wurde, freudig aufzugeben: die Ideale der Demokratie selbst. Sie schützen unsere Demokratie nicht nur nicht, sie geben sie sogar freudig auf. … Millionen von Amerikanern sind inzwischen , von autoritären Kräften radikalisiert worden, welche die Ideale, für die dieses Land steht, zerstören wollen. Sie werden in einigen Fällen von denjenigen ermutigt, die es eigentlich besser wissen müssten, deren Machtgier aber so groß ist, dass ihnen die Demokratie selbst nicht mehr wichtig ist. Es geht hier nicht um einen Kampf zwischen links und rechts. Es gibt auf beiden Seiten des politischen Spektrums hochgesinnte und prinzipientreue Menschen, wie der derzeitige Kampf der loyalen Republikaner im Kongress gegen die Lüge beweist, dass Trump die Wahl tatsächlich gewonnen hat.…
Es spielt keine Rolle, ob die Feinde der Demokratie aus dem Ausland oder aus dem Inland kommen, ob sie von einem globalen Virus oder von einem ganz und gar amerikanischen Autoritarismus herrühren — unsere Generation sollte nicht weniger bereit sein als jede andere, es mit ihnen aufzunehmen, ihnen das Gegenteil zu beweisen und unsere Freiheiten für unsere Kinder und deren Kinder zu retten. Ja, unsere Demokratie ist in gewisser Weise zerrüttet. Amerika hat es nie ganz richtig gemacht, und in mancher Hinsicht haben wir es furchtbar falsch gemacht und machen es immer noch falsch. Aber Zynismus ist nur eine Entschuldigung dafür, nicht zu helfen. Der Punkt ist, dass wir den Kampf fortsetzen. Ich weiß, dass ich für viele spreche, wenn ich sage, dass wir jetzt nicht aufgeben werden.
Eines ist sicher: Wenn die USA dem Autoritarismus zum Opfer fallen sollten, wird es für die verbleibenden Demokratien weltweit ungemütlich. Es gibt auch in der Schweiz Kräfte, die ein Comeback eines Donald Trump freudig begrüssen würden. Was Williamson in ihrem Buch “Healing the Soul of America” ausführt, könnte deshalb auch für die Eidgenossenschaft von Interesse sein. Wir werden deshalb einen Blick hineinwerfen, und zwar
am Freitag, den 28. Januar 2022
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