Im Bewusstsein der Tatsache, dass ein Rückzug ins nationale Schneckenhaus, wie es zurzeit in Europa diverse Nationen und Parteien propagieren, angesichts der immer intensiveren globalen Vernetzung unweigerlich in eine Sackgasse führen muss, stellt sich natürlich die Frage, was denn die Alternative sein könnte. Zurzeit geistern im Zeichen der Covid-Krise wieder diverse Verschwörungstheorien herum. Ein Dauerbrenner ist das “One-World-Government” oder “die Neue Weltordnung”: die Schreckensvision einer totalitären, alles kontrollierenden Weltregierung, unter der die Menschen in einer Gesellschaft à la “1984″, “Schöne Neue Welt” oder “Fahrenheit 451″ zu einer Art “Zombie-Dasein” verdammt sind.
Dass heute die technischen Möglichkeiten dazu durchaus vorhanden wären, ist bekannt. Weniger bekannt ist, in welchem Masse wir heute schon zu “gläsernen Konsumenten” geworden sind. Wem ist zum Beispiel bewusst, dass bei jeder Online-Bestellung im Hintergrund automatisch unsere Kreditwürdigkeit geprüft wird? Oder wieviel wir in den Social Media von uns preisgeben?
Gerd Gigerenzer, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, bringt dazu ein anschauliches Beispiel: Man solle sich einmal vorstellen, die Post würde keine Tarife mehr erheben, sondern die Briefe gratis befördern. Im Gegenzug würde die Post, um Geld zu verdienen, alle Briefe offen oder insgeheim lesen und die Inhalte an interessierte Dritte verkaufen. (Infosperber, 12.12.21). Genauso funktionieren Facebook, Twitter, Telegram, usw.
Da also die dystopische Vision eines supranationalen totalitären Reichs eines Tages durchaus möglich werden könnte und das Sich-Einkapseln in einer nationalen Pseudogeborgenheit illusorisch geworden ist, stellt sich natürlich die Frage, ob es positivere Visionen einer die Nationen übergreifenden Reichsidee gibt, welche die Menschenwürde und die Freiheit ihrer Einwohner schützt und bewahrt.
Mindestens drei Grundbedingungen müssten in diesem Falle erfüllt sein:
a) Ein solches Reich müsste föderativ aufgebaut sein.
b) Es müsste so demokratisch wie nur irgend möglich funktionieren.
c) Dessen Ökonomie müsste nach völlig neuen Spielregeln funktionieren, sodass der zerstörerische Wachstumszwang und die Dominanz eines aus den Fugen geratenen Finanzsystems gebrochen wird.
Erstmals in der Geschichte sind alle Menschen durch eine gemeinsame Weltzivilisation verbunden, die ausnahmslos die gesamte Erde umfasst. Die technologischen Fortschritte im Bereich der Kommunikation, des Transports, der Medien und der Information treiben die planetare Verflechtung weiter voran. Die Vernetzung durch das Internet ist allgegenwärtig und für Wirtschaft und Gesellschaft unverzichtbar geworden. Das moderne Leben unserer Zeit ist nur möglich aufgrund der Globalisierung des Warenhandels, des Kapitalverkehrs, der Dienstleistungen und der Produktionsprozesse.
Mit diesen Worten beginnt ein dicker, kleingedruckter Wälzer von über 450 Seiten von Jo Leinen und Andreas Bummel. Darin stellen die beiden Autoren ihre Vision einer neuen demokratischen und gerechten Weltordnung vor. Der Titel: Das demokratische Weltparlament. Eine kosmopolitische Vision.
Angesichts der vielen politischen und humanitären Krisen, denen wir heute ausgesetzt sind, halten die Autoren fest, dass deren Eliminierung weniger eine Frage der richtigen Politik, sondern eine Frage der richtigen politischen Strukturen ist:
Die Weltordnung befindet sich in einer Krise, die mit der Gefahr eines katastrophalen Zusammenbruchs einhergeht. Das träge “Weiter so” der wirtschaftlichen und politischen Eliten provoziert den Aufstieg nationalistischer, antimoderner und gegenaufklärerischer Kräfte, die das Risiko eines globalen Niedergangs erheblich vergrössern. Um diesen instabilen Zustand zu beseitigen, sind effektive weltrechtliche Institutionen nötig, die demokratisches Weltregieren ermöglichen. Es geht um die Frage, ob der Prozess der Globalisierung endlich auch in den politischen Strukturen vollzogen wird. ( …)
Das Projekt eines Weltparlaments ist unserer Ansicht nach der Schlüssel zur Realisierung einer demokratischen, solidarischen und nachhaltigen Weltordnung und darüber hinaus ein Vehikel für eine neue globale Aufklärung. Die Schaffung eines Weltparlaments gehört zu den wichtigsten politischen Voraussetzungen für das langfristige Fortbestehen der Weltzivilisation im Zeitalter des Anthropozän. Die globalen Risiken und Herausforderungen unserer Zeit sind gravierend, ja sogar existenziell.
Mit dieser Analyse bringen die beiden Autoren die aktuelle Lage auf den Punkt. Die Frage ist natürlich, ob es sich bei ihrer Idee lediglich um eine hübsch schillernde Seifenblase handelt oder um einen Vorschlag, der einen möglichen realen Ausweg aus den heutigen vielfältigen Krisen hin zu einer neuen Weltordnung bieten könnte, — als positiver Gegenentwurf zur dystopischen “Neuen Weltordnung”.
Wir bleiben in der nächsten Folge bei diesem Buch. Dies wie immer
am kommenden Freitag, den 24. Dezember.
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