Wer kennt die­se Erfah­rung nicht: Man hat  ein Buch gele­sen und durch­aus inter­es­sant gefun­den. Dann bekommt man es Jahr­zehn­te spä­ter wie­der in die Hand, — und liest es fas­zi­niert und mit völ­lig ande­ren Augen neu. So dem birsfaelder.li-Schrei­ber­ling zuge­stos­sen mit “Haben oder Sein” von Erich Fromm. Sei­ne Ana­ly­se der aktu­el­len kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schafts­ord­nung am Anfang des Buchs ist so erhel­lend — und durch­aus scho­ckie­rend — dass er beschlos­sen hat, den Text hier in Aus­zü­gen wiederzugeben.

Das “Ende einer Illu­si­on” ist das ein­lei­ten­de Kapi­tel beti­telt, — und die­se Illu­si­on ist
die gros­se Ver­heis­sung unbe­grenz­ten Fort­schritts — die Aus­sicht auf Unter­wer­fung der Natur und auf mate­ri­el­len Über­fluss, auf das grösst­mög­li­che Glück der grösst­mög­li­chen Zahl und auf unein­ge­schränk­te per­sön­li­che Frei­heit — das war es, was die Hoff­nung und den Glau­ben von Genera­tio­nen seit Beginn des Indus­trie­zeit­al­ters auf­rech­terhielt. (…) Wir waren im Begriff, Göt­ter zu wer­den, mäch­ti­ge Wesen, die eine zwei­te Welt erschaf­fen konn­ten, wobei uns die Natur nur die Bau­stei­ne für unse­re neue Schöp­fung zu lie­fern brauchte.

“Zwei­te Welt” — das Wort hat heu­te eine zusätz­li­che Bedeu­tung ange­nom­men, von der Fromm noch nichts wis­sen konn­te: die Ent­wick­lung des “Cyber­space”, wo wir uns, wenn wir wün­schen, sogar als Ava­tare tum­meln kön­nen, oder die rasen­de Ent­wick­lung der Künst­li­chen Intel­li­genz, wo mit dem Sora-Pro­jekt unge­ahn­te neue Mög­lich­kei­ten (und Bedro­hun­gen) durch Fake-Rea­li­ty auf uns zukommen.

Doch zurück zu Fromm. Trotz des Arbei­ter­elends, das mit der begin­nen­den Indus­tria­li­sie­rung ver­bun­den war und das zur Ent­ste­hung sozia­lis­ti­scher Ideen von Proud­hon über Baku­nin zu Marx führ­te, wuchs die Über­zeu­gung, es bre­che ein neu­es Zeit­al­ter des Wohl­stands und der Frei­heit für alle an — wenigs­tens “im Westen”.
Sozia­lis­mus und Kom­mu­nis­mus wan­del­ten sich rasch von einer Bewe­gung, die eine neue Gesell­schaft und einen neu­en Men­schen anstreb­te, zu einer Kraft, die das Ide­al eines bür­ger­li­chen Lebens für alle auf­rich­te­te: der uni­ver­sa­le Bour­geois als Mann und Frau der Zukunft. Leben erst alle im Reich­tum und Kon­fort, dann, so nahm man an, wer­de jeder­mann schran­ken­los glück­lich sein. Die­se Tri­as von unbe­grenz­ter Pro­duk­ti­on, abso­lu­ter Frei­heit und unein­ge­schränk­tem Glück bil­de­te der Kern der neu­en Fort­schritts­re­li­gi­on, und eine neue irdi­sche Stadt des Fort­schritts ersetz­te die “Stadt Got­tes”. Ist es ver­wun­der­lich, dass die­ser neue Glau­be sei­ne Anhän­ger mit Ener­gie, Vita­li­tät und Hoff­nung erfüllte?

Man muss sich die Trag­wei­te die­ser gros­sen Ver­heis­sung und die phan­tas­ti­schen mate­ri­el­len und geis­ti­gen Leis­tun­gen des Indus­trie­zeit­al­ters vor Augen hal­ten, um das Trau­ma zu ver­ste­hen, das die begin­nen­de Ein­sicht in das Aus­blei­ben ihrer Erfül­lung heu­te auslöst.

Das “heu­te” Fromms kann durch­aus auch auf das aktu­el­le “heu­te” bezo­gen wer­den. Eine der Wur­zeln für die Popu­la­ri­tät Trumps in brei­ten Bevöl­ke­rungs­schich­ten ist die Angst der unte­ren Mit­tel­schicht in den USA, sich wirt­schaft­lich auf einem abstei­gen­den Ast zu fin­den. Das galt auch für die wirt­schaft­li­che Situa­ti­on in der Wei­ma­rer Repu­blik, die mit­half, den Auf­stieg Hit­lers zu ermöglichen.

Fromm zählt als Ele­men­te die­ses Trau­mas z.B. die Bewusst­wer­dung auf,
dass Glück und grösst­mög­li­ches Ver­gnü­gen nicht aus der unein­ge­schränk­ten Befrie­di­gung aller Wün­sche resul­tie­ren und nicht zu Wohl-Sein (well-being) führen.
dass der Traum, unab­hän­gi­ge Her­ren über unser Leben zu sein, mit unse­rer Erkennt­nis ende­te, dass wir alle zu Rädern in der büro­kra­ti­schen Maschi­ne gewor­den sind.
dass unse­re Gedan­ken, Gefüh­le und und unser Geschmack durch den Indus­trie- und Staats­ap­pa­rat mani­pu­liert wer­den, der die Mas­sen­me­di­en beherrscht.
dass der tech­ni­sche Fort­schritt sowohl öko­lo­gi­sche Gefah­ren als auch die Gefahr eines Atom­kriegs mit sich brach­te, die jede für sich oder bei­de zusam­men jeg­li­cher Zivi­li­sa­ti­on und viel­leicht sogar jedem Leben ein Ende berei­ten könn­te.

Und er schliesst das Kapi­tel mit einem Zitat aus der Rede Albert Schweit­zers am 4.11.1954 anläss­lich der Ent­ge­gen­nah­me des Frie­dens­no­bel­prei­ses in Oslo:
Wagen wir die Din­ge zu sehen, wie sie sind. Es hat sich ereig­net, dass der Mensch ein Über­mensch gewor­den ist. (…) Er bringt die über­mensch­li­che Ver­nünf­tig­keit, die dem Besitz über­mensch­li­cher Macht ent­spre­chen soll­te, nicht auf. (…) Damit wird nun voll­ends offen­bar, was man sich vor­her nicht recht ein­ge­ste­hen woll­te, dass der Über­mensch mit dem Zuneh­men sei­ner Macht zugleich immer mehr zum arm­se­li­gen Men­schen wird.

Was wür­de Albert Schweit­zer wohl heu­te sagen?

Fort­set­zung am kom­men­den Frei­tag, den 1, März

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