Es ist den Untersuchungen des kanadischen Politikwissenschaftlers James Tully zu verdanken, die entscheidende Wurzel der Eigentumstheorie John Lockes freigelegt zu haben, — nämlich die koloniale. Auf dem nordamerikanischen Kontinent waren eine ganze Reihe englischer Kolonien entstanden, und die Siedler brauchten Land. Durfte man es der indigenen Bevölkerung einfach wegnehmen?
Locke beantwortete die Frage zustimmend.
Die Frage der Rechtmäßigkeit der Aneignung des amerikanischen Landes durch die Europäer, die zu Lockes Zeiten Gegenstand intensiver politischer und philosophischer Auseinandersetzungen war, ist nicht ein nebensächliches Spezialthema der zwei Abhandlungen, sondern eines ihrer Hauptziele. (…)
Locke war auf vielfältige Weise persönlich in das Projekt der Kolonisierung involviert. Er war Sekretär seines Förderers Anthony Ashley Cooper, dem Earl of Shaftesbury, einem wichtigen Protagonisten der englischen Unternehmungen in Amerika, sowie zeitweise Sekretär der Lord Proprietors of Carolina, Sekretär des Council of Trade and Plantations und Mitglied des Board of Trade. Er investierte in die Royal Africa Company und in die Company of Merchant Adventurers to trade with the Bahamas, die am transatlantischen Sklavenhandel beteiligt waren. Schließlich war er Mitautor der Verfassung von Carolina sowie verschiedener anderer Gesetzestexte und Politikempfehlungen in den englischen Kolonien. Der realpolitische Einfluss, den Lockes Philosophie auf die Gestaltung des englischen Kolonialismus somit hatte, kennt kaum seinesgleichen.
Locke hatte postuliert, man dürfe sich nur soviel als Besitz aneignen, wie man selbst verbrauche: “Wenn die Früchte verfaulen oder das Wild verweste, bevor er sie verbrauchen konnte, so verletzte er das gemeinsame Gesetz der Natur und machte sich strafbar (Zweite Abhandlung, § 37)
Liest man seine Bemerkungen im Kontext des Kolonialismus, so wird … deutlich, dass Locke mit dem Vergeudungsverbot einen ganz spezifischen Zweck verfolgt: Locke setzt umstandslos das Verbot der Vergeudung mit einem Gebot zur Kultivierung gleich. Dies ermöglicht ihm dann eine Klassifizierung des amerikanischen Landes als „Brachland“ (wasteland) und der aboriginalen Landnutzung durch Jagen und Sammeln als „Brachliegenlassen“. Diese Einstufung rechtfertigt erstens, dass die Europäer sich das „brachliegende“ Land ohne jemandes Zustimmung selbst aneignen dürfen; wird ein Gebiet nicht kultiviert, so verbleibt es für Locke auch dann in Gemeinbesitz, wenn es sich außerhalb des eigenen Staatsgebiets befindet (es ist nur dann nicht erlaubt, sich brachliegendes Land anzueignen, wenn es auf dem Territorium eines Volkes liegt, das Geld verwendet).
Zweitens begründet das Brachliegenlassen auch einen Anspruch auf Bestrafung derjenigen, die sich dem göttlichen Kultivierungsgebot widersetzen. Brachliegenlassen kommt einem Diebstahl am Gemeineigentum und somit einer Verletzung von Naturrecht gleich. Im Naturzustand hat für Locke jeder Mensch judikative (richterliche) Befugnisse; wer Naturrecht bricht, darf für Locke von jedem anderen rechtmäßig getötet oder versklavt werden.
Locke war also der Meinung, dass die native americans durch ihr Brachliegenlassen des Landes Naturrecht verletzen und daher rechtmäßig getötet werden dürfen. Folgerichtig ist es auch kein Unrecht, sie zu versklaven. Dementsprechend erlaubt die Verfassung von Carolina, deren Ko-Autor Locke war, die Sklaverei und tatsächlich betrieb Carolina den größten Sklavenhandel von allen englischen Kolonien.
Wer sich etwas vertiefter mit der indigenen Lebensweise und Religion in Nordamerika auseinandergesetzt hat (siehe “A Basic Call to Consciousness — ein Kommentar”), kommt nicht umhin, den tiefsitzenden unbewussten Rassismus zu erkennen, der hinter der Eigentumstheorie Lockes stand:
Sowohl die aboriginale Produktionsweise als auch die aboriginalen politischen Institutionen, so weist Tully überzeugend nach, waren für Lockes koloniale Perspektive nicht intelligibel. Faktisch waren die native americans durchaus in politischen Verbänden organisiert und haben sich als Souveräne über ihr Land verstanden. Sie haben sich seit Beginn des Kontakts mit den Europäern darum bemüht, ihre traditionelle Landnutzung beizubehalten; für eine Einrichtung einer Privateigentumsordnung nach Vorbild der europäischen Staaten sahen sie keinen Anlass. Die native americans wollten allerdings mit den europäischen Mächten Handel treiben und schlossen mehrere Freundschaftsund Kooperationsverträge, die von europäischer Seite jedoch immer wieder gebrochen wurden. (…)
Locke liefert die Legitimation der gewaltförmigen Zerschlagung des aboriginalen Kommunismus und der politischen Institutionen der native americans. (Sämtliche Auszüge aus Daniel Loick, Der Missbrauch des Eigentums)
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Nächste Folge am kommenden Freitag, den 1. Dezember.
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