Daniel Loick geht im folgenden auf zwei Kritiker ein, die es unternommen haben, die Eigentumstheorie von John Locke einer kritischen Prüfung zu unterziehen: die beiden kanadischen Politikwissenschaftler C.B. MacPherson und James Tully.
Wenden wir uns zunächst MacPherson und seinem Klassiker “Die politische Idee des Besitzindividualismus” aus dem Jahre 1962 zu.
Seine grundlegende These lautet, dass sich im England des 17. Jahrhunderts zeitgleich mit den realen sozialen und politischen Kämpfen, welche der Geburt der liberalen Demokratie vorangingen, auch ideologische Kämpfe abspielten, die sich um den Status und die Gestalt des Individuums in der Gesellschaft drehten. Die Vorstellung der Gesellschaft als Summe dissoziierter Individuen hat sich mühsam gegenüber älteren politischen, theologischen und kosmologischen Vorstellungen durchsetzen müssen.
Diese Transformation, so Macpherson, vollzog sich bei den englischen Kontraktualisten mittels der Verknüpfung von Individualität und Eigentum: Das Individuum ist vor allem Eigentümer seiner Person und seiner Arbeitskraft und als solcher völlig losgelöst von jedem gesellschaftlichen oder gemeinschaftlichen Rechtfertigungsbedarf.
Hier ist ein Blick auf den Begriff “Kontraktualisten” notwendig:
Beim Kontraktualismus wird … angenommen, dass die Individuen sich aufgrund natürlicher Interessen aus freiem Willen zu einer staatlichen Ordnung zusammenschließen. Daraus resultieren wechselseitige Beziehungen sowie eine Selbstverpflichtung, den beschlossenen Vertrag einzuhalten.
Diese Sicht setzte sich im Zuge der Aufklärung durch, nachdem das mittelalterliche Weltbild zusammengebrochen war:
Das Herausfallen des Individuums und des Staates aus der mittelalterlichen Weltordnung und die daraus entstehenden Konflikte, insbesondere die Religionskriege, warfen die Frage nach dem Warum und dem Wie der politischen Ordnung mit bisher unbekannter Vehemenz auf. Eine spezifisch „moderne“ Antwort auf diese Frage ist die Vertragstheorie.
Es ist nicht selbstverständlich, dass ausgehandelte Verträge den Frieden sichern sollen. Herrschaftsordnung und Autorität wurden lange Zeit persönlich verstanden und beruhten möglichst auf Abstammung. Die Theorie vom Gottesgnadentum diente zur Rechtfertigung der Herrschaft. Wahlen galten als unfriedlich und waren selbst in der attischen Demokratie verpönt. (…) Somit herrschte auch noch im Mittelalter die als friedenssichernd geltende Erbfolge vor.
(Auszüge aus Wikipedia “Vertragstheorie”)
Loick: Nur auf Grundlage dieses historisch neuartigen Menschenbildes hat sich ein Gesellschaftsbild, das Sozialität auf ein Konglomerat von Vertragsbeziehungen, und ein Politikverständnis, das den Staat auf seine Rolle als zwangsbewehrter Garant dieser Vertragsbeziehungen reduziert, durchsetzen können.
MacPherson weist nun darauf hin, dass Locke mit seiner Privateigentumsordnung die kapitalistische Wirtschaftsordnung rechtfertigt, denn Geld ist für ihn nicht nur ein sinnvolles Tausch- und Zahlungsmittel, sondern hat einen weiteren Zweck: die Bildung von Kapital. Und Arbeit ist nicht nur nötig, um sich das Recht auf Besitz von Gegenständen zu verschaffen, sondern kann auch — weil jeder Einzelne Eigentümer seines Körpers ist — als Ware verkauft werden.
Womit wir bei der Lohnarbeit wären:
Beides zusammen, Kapital und Lohnarbeit, begründen eine kapitalistische Produktionsweise. Die Pointe von Macphersons Intervention besteht in dem Nachweis, dass das liberale Freiheitsverständnis, indem es Individualität an Privateigentum knüpft, das ideologische Komplement der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft darstellt.
Für Locke war die Existenz von Lohnarbeit schon selbstverständlich:
So schreibt er etwa im Kontext seiner Theorie des Eigentumserwerbs durch Arbeit: „Das Gras, das mein Pferd gefressen, der Torf, den mein Knecht gestochen, und das Erz, das ich an irgendeinem Ort gegraben, […] werden ohne die Anweisung und Zustimmung von irgend jemandem mein Eigentum. Es war meine Arbeit, die sie dem gemeinsamen Zustand, in dem sie sich befand, enthoben hat und die mein Eigentum an ihnen bestimmt hat.“ Locke setzt hier völlig selbstverständlich die Arbeit seines Knechtes mit seiner Arbeit gleich.
Das impliziert aber, dass sein Knecht im Gegensatz zu ihm gerade nicht die Möglichkeit hat, sich die Produkte seiner Arbeit anzueignen. Ihm wird also verunmöglicht, genau denjenigen Akt zu vollziehen, der ursprünglich den Legitimationsgrund des Privateigentums abgab.
Die Gebrauchsmöglichkeiten von Kapitalistin und Arbeiterin verhalten sich somit antagonistisch zueinander: Der Gebrauch durch die eine schließt den Gebrauch für die andere aus.
Fortsetzung am kommenden Freitag, den 24. November
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