John Locke postulierte, dass die Wandlung von Gemeineigentum zu Privateigentum durch die investierte Arbeit erfolge. Seine Beweiskette:
Wenn Privateigentum notwendig ist, um die Früchte der Erde gebrauchen zu können, so muss erklärt werden, was etwas zu jemandes legitimen Privateigentum macht. Das einzige, woran Menschen auch im Zustand des Gemeineigentums ein Privateigentum haben, so nimmt Locke axiomatisch an, ist ihr eigener Körper. Der Körper eines Menschen kann darum nie jemand anderes Eigentum werden. Wenn sie etwas aus der Natur bearbeiten, etwa indem sie eine Frucht pflücken oder ein Wild erlegen, so haben die Menschen dem Gegenstand etwas von sich selbst hinzugefügt. Da niemand anderes sich einer anderen Person bemächtigen darf, darf sich auch niemand des Teils bemächtigen, den sie von sich durch Arbeit in eine Sache gelegt hat. Auf diese Weise hat sich für Locke Gemeineigentum in Privateigentum verwandelt.
Hier taucht aber schon ein erster Schwachpunkt in seiner Argumentation auf, denn
… sie setzt voraus, was sie eigentlich erklären soll, nämlich dass jemand einen Gegenstand überhaupt rechtmäßig bearbeiten darf. (…) Sie lässt den Grad der Bearbeitung unklar, der zur Erlangung eines Eigentumstitels notwendig ist („Wenn mir eine Dose Tomatensaft gehört und ich sie ins Meer ausgieße […], werde ich dann Eigentümer des Meeres oder habe ich meinen Tomatensaft vergeudet?“); und sie begeht einen Kategorienfehler, wenn sie Arbeit als ein Objekt versteht, das mit anderen Objekten vermischt werden kann.
Am wichtigsten für diesen Kontext ist aber die Tatsache, dass Locke aus der Arbeit nur deshalb eine Privatisierung ursprünglicher Gemeingüter ableiten kann, weil er schon von einem atomistischen Arbeitsbegriff ausgeht. Er versteht Arbeit als vereinzelte Tätigkeit, wie sie weder in der Realität von Lockes eigener Gegenwart, noch im von ihm imaginierten Naturzustand anzutreffen ist. Die Konsequenz aus Lockes Theorie der Arbeit als Erwerbsgrund eines Rechtstitels auf Eigentum müsste eigentlich die sein, dass die Arbeiterinnen, die einen Gegenstand gemeinsam bearbeiten, auch gemeinsam dessen Eigentümerinnen werden. Dass dies nicht der Fall ist, liegt daran, dass auch die Form der Arbeit nicht inhaltlich unbestimmt ist, sondern nur als eine ganz spezifische Praxis in der Lage sein soll, den göttlichen Auftrag zu erfüllen, die Erde „zu ihrem größten Vorteil zu nutzen“.
Arbeit allein kann jedoch, wie gesagt, die Privatisierung von Eigentum nicht begründen, denn, wie Locke selbst zugestanden hatte, auch die „wilden Indianer“ arbeiten. Es ist nur eine bestimmte Arbeit, die dem Unterwerfungsgebot gerecht zu werden mag. Locke spezifiziert: „Gott gab die Welt den Menschen gemeinsam. Doch da er sie ihnen zu ihrem Nutzen gab und zu den größtmöglichen Annehmlichkeiten des Lebens, die sie ihr abzugewinnen vermochten, kann man nicht annehmen, er habe beabsichtigt, daß sie immer in Gemeingut und unkultiviert bleiben sollte.“ Die einzige Form von Arbeit, die der göttlichen Aufforderung entspricht, ist also eine kultivierende Arbeit, die Locke unter der Hand mit individualisierter Arbeit gleichsetzt.
Diese Auffassung, Gott habe der Menschheit den Auftrag gegeben, die Erde “zu kultivieren”, hatte — wie wir noch sehen werden — insbesondere für die indigenen Völker dieser Erde dramatische Konsequenzen.
Eine weitere dramatische Konsequenz, welche die ursprüngliche Idee Lockes, privates Eigentum entstehe durch Arbeit ad absurdum führte und den Boden für die Entwicklung einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung bereitete, war die — aus seiner Sicht — sinnvolle und notwendige Einführung des Geldes als legitimes Tauschmittel:
Das Geld dient zunächst nur dazu, die Klausel zu umgehen, nach der die Akkumulation verderblicher Güter verboten ist. Einer Eigentümerin ist es nämlich gestattet, die von ihr angeeigneten Güter zu tauschen. Sie kann daher verderbliche durch weniger verderbliche Waren ersetzen, ohne etwas vergeudet zu haben. Mit der gesellschaftlichen Konvention, unverderbliches Metall wie Gold und Silber als Zahlungsmittel zu akzeptieren, kennt die erlaubte Akkumulation von Eigentum keine quantitative Grenze mehr. Schon für sich genommen ist die Einführung des Geldes in Lockes Theorie höchst fragwürdig, da sie die Notwendigkeit, für sein Eigentum zu arbeiten, schon durch die Möglichkeit der Vererbung zumindest potentiell aushebelt.
Sie hat zudem die Konsequenz, die Appropriation von Gütern vom Gebrauch nunmehr vollständig loszulösen. Denn durch die Überwindung der Eigenbedarfsgrenze wird es möglich, dass der Reichtum, der einer Eigentümerin gehört, von ihr gar nicht mehr gebraucht wird. Es reicht aus, ihn nicht verrotten zu lassen, um seine legitime Eigentümerin zu bleiben. So wird es auch möglich, Geld zu investieren, das heißt in Kapital zu verwandeln — und ganz plötzlich ist es für Locke erlaubt, dass jemand zwei Häuser hat, obwohl er nur in einem wohnt …
In Lockes Theorie ist der durch die Einführung des Geldes herbeigeführte Nicht-Gebrauch von Gütern jedoch nicht nur möglich, sondern sogar notwendig. Denn das Geld bekommt im Laufe von Lockes Gedankengang eine Rolle, die über seinen abgeleiteten Status als praktisches, weil unverrottbares Zahlungsmittel hinausgeht. Monetärer Verkehr ist für Locke das Kennzeichen, das eine Gesellschaft aufweisen muss, um als kultiviert zu gelten. Nur die Möglichkeit und der Anreiz, mehr als für den Eigenbedarf zu produzieren, führt für Locke zu einer effektiven landwirtschaftlichen Nutzung des verfügbaren Landes.
Locke’s Gedankengänge sind seither immer wieder kritisch unter die Lupe genommen worden. So schreibt die feministische Autorin Silvia Federici in ihrem Buch “Caliban und die Hexe” im Hinblick auf den letzten Satz: “Diese Argumente halten kritischer Prüfung nicht stand. Landprivatisierung und Kommerzialisierung der Landwirtschaft verbesserten die Lebensmittelversorgung der Armen nicht, obgleich mehr Lebensmittel für den Markt und den Export zur Verfügung standen. Für die Arbeiter läuteten diese Entwicklungen zwei Jahrhunderte des Hungers ein, ganz so, wie die Unterernährung heute selbst in den fruchtbarsten Gebieten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas grassiert, und zwar infolge der Aufhebung gemeinschaftlichen Landbesitzes […]“
In der nächsten Folge kommen weitere Kritiker zu Wort, welche die ideologischen Hintergründe von Locke’s Argumentation ausleuchten, — und dies wie immer am kommenden Freitag, den 17. November.
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