„Die Kirche im Dorf lassen“ im Sinne von: Lasst es uns nicht übertreiben, es geht auch eine Nummer kleiner.
Gottfried Locher, nach einer internen und in der Presse breitgetretenen Skandalgeschichte im Juni 2020 zurückgetretener Ratspräsident der Evangelisch-Reformierten Kirche und geschäftsführender Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, hat sich in einem Interview in der Weltwoche zum Thema “Kirche und Konzernveranwortungsinitiative” geäussert.
Locher studierte Theologie in Bern und London, doktorierte am King’s College und erwarb sich Managementwissen an der London Business School. Er kommandierte ein Infanteriebataillon und war Oberst im militärstrategischen Stab des Chefs der Armee. Er baute Kontakte über die konfessionellen Grenzen hinweg zur römisch-katholischen und zu orthodoxen Kirchen auf und trieb die Vernetzungen der Schweizer Reformierten weltweit voran. Seit 2015 war er zudem Vorsitzender des Schweizerischen Rates der Religionen.
Kurz — eine eindrückliche Karriere. Gottfried Locher ist offensichtlich ein kirchenpolitisches Schwergewicht, weshalb es sich durchaus lohnt, ihm etwas zuzuhören. Schauen wir uns doch einfach einmal ein paar Interview-Aussagen an:
“Gute Theologie macht die Kirche politisch wirksamer als Abstimmungsparolen.”
Fragt sich halt einfach, was “gute Theologie” denn sein soll ..
“Wir haben kein Recht, anderen Ländern die Rechtsprechung aus der Hand zu nehmen für Dinge, die in ihrem Land geschehen. … Ich sehe nicht ein, was uns legitimiert, anderen Ländern das Schweizer Rechtsempfinden aufzuzwingen. Fühlen wir uns moralisch überlegen? … Die Initiative ist ein moralisch verbrämter kolonialistischer Übergriff — Schweizer Recht rund um den Globus.”
Man reibt sich die Augen, denn wenige Zeilen vorher meint er: “Wer Schaden anrichtet, soll dafür geradestehen. Das funktioniert nicht immer, nicht in der Schweiz und erst recht nicht in ärmeren Ländern. Dort finden Reiche und Mächtige leicht Wege, sich aus der Verantwortung zu stehlen, einheimische und ausländische. Das Unrecht schreit zum Himmel.”
Dass das “Schweizer Rechtsempfinden” vielleicht einen Zusammenhang mit der Achtung grundlegender Menschenrechte zu tun haben könnte, die durch die Reichen und Mächtigen mit Füssen getreten werden, ist dem theologisch geschulten Herrn Locher offensichtlich nicht mehr einsichtig. Furrer&Hugi haben ganze Arbeit geleistet.
“Ich kenne engagierte, integre Menschen, die sich für die Initiative einsetzen. Dennoch kann niemand die Nächstenliebe für seine Weltsicht pachten. … Gerade die Kirchen sollten zurückhaltend sein, ihre Vorstellung von Nächstenliebe für sakrosankt zu halten.”
“Kirchen stehen nicht über der Parteipolitik, aber sie tun so, als dürften sie eine höhere Moral beanspruchen.”
In meiner Naivität war ich doch tatsächlich der Überzeugung, Kirchen sollten sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzen.
“Ich bin gegen den “Moralschleim”. Die Kirche soll aufhören, den Menschen zu sagen, wie sie leben müssen. Kirchen sind dazu nicht legitimiert, und sie haben viel Schaden angerichtet, wenn sie meinten, es zu sein.”
Hier hat Locher durchaus einen Punkt: Die 10-bändige “Kriminalgeschichte des Christentums” von Karl Heinz Deschner legt Zeugnis davon ab, was passierte, wenn die Kirche Menschen sagte, wie sie zu leben haben. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass viele Kirchgemeinden einfach auf ihr von Theologie noch nicht korrumpiertes Gewissen hören.
“Wir sind unfreie Menschen in einer unfreien Welt. In den seltenen Momenten, in denen wir uns nichts vormachen, wird uns das erschreckend klar. Eine Kirche, die uns mit “Moralschleim” noch unfreier macht, brauchen wir nicht.”
Jeshua ben Joseph, auf den sich die Kirche bezieht, sagte einmal: “So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.” Aber das ist halt schon eine ganze Weile her .…
“Eine Kirche aber, die uns helfen würde, das Leben anzunehmen, wie es ist, auch dann, wenn es “dreckig” ist, … eine solche bräuchten wir.”
Das sollten wir den Opfern der Grosskonzerne aber schleunigst mitteilen, denn dann bräuchte es die Konzernverantwortungsinitiative tatsächlich nicht mehr ;-).
Fazit: Zieht der geneigte Leser und die geneigte Leserin am besten selber …
P.S. Ignaz Troxler, engagierter Christ, grösster Schweizer Philosoph und “Vater” der Bundesverfassung von 1848 schrieb in seinen “Fragmenten”: “Die Kirche ward eine Fabrik von Glaubenswahrheiten, die religiösen Anschauungen und Bestrebungen sollten in tote Begriffe und leere Übungen untergehen.” Das schrieb er vor 150 Jahren. 600 Kirchgemeinden zeigen heute, dass unter der Asche immer noch etwas Feuer glüht!
Christoph Meury
Sep 26, 2020
Mich interessieren die Querelen in der Evangelisch-Reformierten Kirche keinen Deut. Von mir aus können sie sich die Köpfe einschlagen so lange sie wollen.
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Interessant ist für mich aber der Hinweis von Max Feurer, dass er der Meinung ist, dass es zu einer eindrücklichen Schweizer Berufskarriere gehört in der Armee seine Sporen als Oberst abverdient zu haben. Das macht Gottfried Locher offensichtlich u.a. zu einem kirchenpolitischen Schwergewicht. Na ja, daran glauben zwischenzeitlich nicht einmal mehr die Wirtschaftsvertreter. Sie rekrutieren ihre Kader nicht mehr direkt aus den militärischen Stäben. Der autoritäre und hierarchisch durchstrukturierte, mit Kommandoton unterlegte Führungsstil, ist ein Auslaufmodell.
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Auch die Wirtschaft braucht heute, je länger je mehr, Teamplayer. Dabei sind vorrangig folgende Soft Skills: Kommunikationsfähigkeit, Charisma, Belastbarkeit, Empathie, Flexibilität, interkulturelle Kompetenz, Anpassungsfähigkeit, Präsentationsstärke. Heisst: Auch Berufskarrieren und entsprechende Qualifikationen müssen (endlich) neu gedacht werden.
max feurer
Sep 26, 2020
Mich interessieren die internen Querelen auch nicht, aber da Herr Locher deswegen über Wochen hinweg in den Schlagzeilen war und deswegen immerhin seinen Posten verlor,schien mir der Hinweis sinnvoll.
Die Erwähnung der “eindrücklichen Karriere” war mit einem Augenzwinkern verbunden. Der Interviewer zählte nämlich zu Beginn sämtliche Titel usw. auf, um die Bedeutung des Interviewten im Hinblick auf dessen Antworten herauszustreichen. Kleiner Trick, der aber angesichts der unsäglichen Auslassungen Herrn Lochers nicht viel nützte …
Franz Büchler
Sep 26, 2020
Ich finde es gut, wenn jemand mit seinen Ausbildungen, Karriereschritten und Skandalen charakterisiert wird, bevor seine ziemlich verlogenen Verlautbarungen kommentiert werden.
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Zu jammern, dass Kirchenleute nicht in die Politik gehören, sich selbst aber von Hurrer&Fugi (oder so) in einem sogenannten Ethik-Komitee instrumentalisieren lassen, passt doch durchaus in diese Karriere.
Und genau darum ging es.