Sonderausgabe Weltwoche Daily, Samstag, den 18. März 2023:
Dies ist die wichtigste Sendung, die ich je gemacht habe. Und deshalb steht neben mir erstmals überhaupt Wilhelm Tell mit seiner Armbrust, unser Nationalheld, unser Freiheits‑, unser Widerstands- und Unabhängigkeitsheld Wilhelm Tell. Wir erleben derzeit einen Wilhelm Tell-Moment unserer Geschichte, und wir Schweizer sind aufgefordert, den Wilhelm Tell in uns zu entdecken, freizulegen, zu entfesseln! Wir Schweizer müssen jetzt zusammenstehn!”
So leitete Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel mit bedeutungsschwerer Stimme seine Sendung ein.
Schreck lass nach!! Steht die Existenz der Eidgenossenschaft auf dem Spiel? Werden wir von irgendwelchen Invasoren überrannt? Hat die SVP gerade eine gelenkte Demokratie à la Orban eingeführt? (Sorry, kann nicht sein, der Chefredaktor hätte das als grosser Orban-Fan begrüsst …).
Nun ja, wir wissen natürlich, dass es bei dem beschworenen Weltuntergangs-Szenario um das Crédit Suisse-Debakel geht, dessen Ausgang ihn offensichtlich zutiefst erschüttert hat. Und weiter:
Wir müssen die Schweiz verteidigen, die schweizerische Unabhängigkeit, die Neutralität und die schweizerische Finanzindustrie in diesem Weltkrieg, in diesem Wirtschaftsweltkrieg, der da draussen von Raubtierstaaten mit imperialen Interessen auch gegen unser Land ausgetragen wird …
Es steht die Schweizer Finanzindustrie auf dem Spiel, es steht die Schweiz auf dem Spiel!
Man muss den letzten Satz zweimal lesen, um die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage wirklich zu erfassen:
Roger Köppel setzt die Existenz der Eidgenossenschaft mit dessen Finanzindustrie gleich!
Ignaz Troxler, der eigentliche Architekt der modernen Schweiz und “Vater” der Bundesverfassung von 1848, würde sich im Grabe umdrehen …
Der birsfälder.li-Schreiberling hat von Bankgeschäften zugegebenermassen keine grosse Ahnung. Aber er wird den Eindruck nicht mehr los, dass im Staate Dänemark — sprich: der Welt der Banken — seit langem unendlich viel zum Himmel stinkt. Es gab nach der weltweiten Bankenkrise 2008 — ausgelöst durch die Gier der “Masters of the Universe” — mit “Occupy Wallstreet” ein kurzzeitiges Aufflackern des Widerstands gegen ein von der realen Weltwirtschaft völlig abgehobenes “Zocker”-Bankensystem. Es gab ein paar halbherzige Regelungen, die sich erneut als ineffizient erwiesen haben (siehe Artikel von Marc Chesney im Infosperber: “Die Wettgeschäfte der Grossbanken verbieten”)
Die CS taumelte von einem Skandal zum nächsten, während die CEOs Millionen als Boni schaufelten.
Wie die Schweizer Zeitung Tages-Anzeiger errechnet hat, haben die Manager in den vergangenen zehn Jahren 32 Milliarden Franken an Boni kassiert – während die Bank im gleichen Zeitraum insgesamt einen saldierten Verlust von 3,2 Milliarden Franken einfuhr. (taz, 20.3.23)
Und da sollen wir Eidgenossen zusammenstehen, den Wilhelm Tell in uns wachkitzeln, um eine Bank zu retten, die beschlossen hat, auch nach der UBS-Rettungsaktion noch rasch die Gehälter zu erhöhen und Boni auszuzahlen!? Eine Bank, von der eine ausländische Zeitung meint, sie sei für ein “ruchloses Geschäftsmodell” gestanden, “das den eigenen Profit stets über die moralische Glaubwürdigkeit stellte und dabei nicht selten das ganze Land in Geiselhaft nahm”?
Die New York Times hat soeben den neuesten Bericht des “Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC” kommentiert. Darin wird festgehalten, dass die Erde anfangs der 2030er Jahre eine kritische Erwärmungsschwelle erreicht. Das im Pariser Klimaabkommen von 2015 festgelegte Ziel von einer maximalen globalen Erwärmung von 1,5° erweise sich zunehmend als unrealistisch.
… die Erde hat sich seit dem Industriezeitalter bereits um durchschnittlich 1,1 Grad Celsius erwärmt, und da die weltweiten Emissionen fossiler Brennstoffe im vergangenen Jahr einen Rekordwert erreicht haben, rückt dieses Ziel schnell außer Reichweite.
Laut dem neuen Bericht gibt es noch eine letzte Chance, den Kurs zu ändern. Dazu müssten sich die Industrieländer jedoch sofort zusammentun, um die Treibhausgasemissionen bis 2030 etwa zu halbieren, und dann bis Anfang der 2050er Jahre die Zufuhr von Kohlendioxid in die Atmosphäre ganz einstellen. Wenn diese beiden Schritte unternommen würden, hätte die Welt eine etwa 50-prozentige Chance, die Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen.
Verzögerungen von nur wenigen Jahren würden dieses Ziel höchstwahrscheinlich unerreichbar machen und eine heißere, gefährlichere Zukunft garantieren.
Der Bericht kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem die beiden größten Umweltverschmutzer der Welt, China und die Vereinigten Staaten, weiterhin neue Projekte für fossile Brennstoffe genehmigen. Nach Angaben des Centre for Research on Energy and Clean Air in Finnland erteilte China im vergangenen Jahr Genehmigungen für 168 Kohlekraftwerke unterschiedlicher Größe. Letzte Woche genehmigte die Regierung Biden ein riesiges Ölbohrprojekt mit dem Namen Willow, das auf unberührtem Bundesland in Alaska durchgeführt werden soll. (…)
Der Bericht, der von 195 Regierungen gebilligt wurde, besagt, dass die bestehende und derzeit geplante Infrastruktur für fossile Brennstoffe — kohlebefeuerte Kraftwerke, Ölquellen, Fabriken, Autos und Lastwagen auf der ganzen Welt — bereits genug Kohlendioxid produzieren wird, um den Planeten in diesem Jahrhundert um etwa 2 Grad Celsius zu erwärmen. Um die Erwärmung unter diesem Wert zu halten, müssten viele dieser Projekte gestrichen, vorzeitig stillgelegt oder anderweitig saniert werden.
“Die 1,5‑Grad-Grenze ist erreichbar, aber es bedarf eines Quantensprungs bei den Klimaschutzmaßnahmen”, sagte António Guterres, der Generalsekretär der Vereinten Nationen. Als Reaktion auf den Bericht forderte Guterres die Länder auf, keine neuen Kohlekraftwerke mehr zu bauen und keine neuen Öl- und Gasprojekte mehr zu genehmigen.
Der Unterschied zwischen 1,5 Grad Erwärmung und 2 Grad könnte bedeuten, dass weltweit Dutzende Millionen Menschen mehr lebensbedrohliche Hitzewellen, Wasserknappheit und Überschwemmungen an den Küsten erleben. In einer Welt mit 1,5 Grad Erwärmung könnte es noch Korallenriffe und sommerliches arktisches Meereis geben, in einer Welt mit 2 Grad Erwärmung dagegen höchstwahrscheinlich nicht mehr. (…)
Nach Ansicht der Wissenschaftler wird die Erwärmung weitgehend zum Stillstand kommen, sobald der Mensch der Atmosphäre keine wärmespeichernden Gase mehr hinzufügt, ein Konzept, das als “Netto-Null-Emissionen” bekannt ist. Wie schnell die Nationen den Netto-Nullpunkt erreichen, wird darüber entscheiden, wie heiß der Planet letztendlich wird. Bei der derzeitigen Politik der nationalen Regierungen wird sich die Erde in diesem Jahrhundert um 2,1 bis 2,9 Grad Celsius erwärmen, so die Schätzungen der Analysten.
(aus der New York Times vom 20. März 2023)
Die Gestalt Wilhelm Tells hat bekanntlich im Laufe der Jahrhunderte international ausgestrahlt. Er wurde in der Amerikanischen und in der Französischen Revolution, in den Revolutionen von 1830 und 1848 beschworen. Er ist zu einem internationalen Symbol für den Kampf für eine freie und gerechte Gesellschaft geworden.
Wäre es nicht sinnvoller, den “Wilhelm Tell in uns” anstatt für eine korrupte Finanzelite für eine lebenswerte Erde auch für die zukünftigen Generationen zu aktivieren?
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