Das christ­li­che Glau­bens­be­kennt­nis, wie es heu­te von allen Kir­chen gelehrt wird, wur­de im Jah­re 325 im von Kai­ser Kon­stan­tin ein­be­ru­fe­nen Kon­zil von Nicäa fest­ge­legt und 431 im Kon­zil von Ephe­sos noch ein­mal bestä­tigt. Am Kon­zil von Ephe­sos wur­de übri­gens —   beglei­tet von erbit­ter­ten theo­lo­gi­schen Strei­tig­kei­ten — erst­mals das Kreuz als christ­li­ches Sym­bol offi­zi­ell eingeführt.

Machen wir ein klei­nes Gedankenexperiment:
Wenn das Kon­zil von Nicäa heu­te tagen wür­de, hät­ten Geburt und Kreu­zi­gung Jesu in der vor­re­vo­lu­tio­nä­ren Zeit des “Son­nen­kö­nigs” Lud­wig XIV. statt­ge­fun­den. Dazwi­schen lie­gen diver­se Revo­lu­tio­nen und sozia­le Umbrü­che, die Indus­tria­li­sie­rung, der Sie­ges­zug der Natur­wis­sen­schaf­ten, der Kampf zwi­schen Ideo­lo­gien, die Ent­wick­lung der Psy­cho­ana­ly­se mit der Ent­de­ckung des Unbe­wuss­ten im Indi­vi­du­um und der Gesell­schaft, — um nur ein paar Stich­wor­te zu geben.

In der Zeit zwi­schen der Kreu­zi­gung Jesu und dem Kon­zil von Nicäa ging die poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Ent­wick­lung um eini­ges gemäch­li­cher vor­an. Ange­sichts der Tat­sa­che, dass schrift­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on nur “von Hand” mög­lich war, kön­nen wir davon aus­ge­hen, dass die­se Zeit­span­ne gefühlt als eini­ges län­ger erlebt wur­de als für uns die letz­ten drei­hun­dert Jah­re mit den fast “unend­lich” vie­len his­to­ri­schen Zeugnissen.

Wel­chen Quel­len lag das nicä­i­sche Glau­bens­kennt­nis zugrun­de? Wie sah das Chris­ten­tum in die­sen ers­ten Jahr­hun­der­ten aus, bevor der christ­li­che Glau­be defi­ni­tiv dog­ma­tisch “fixiert” wurde?

Lan­ge Zeit herrsch­te bei  Theo­lo­gen und Kir­chen­his­to­ri­kern die Mei­nung vor, dass es zu Beginn unter der Lei­tung der Jün­ger Jesu, den Apos­teln, eine mehr oder weni­ger ein­heit­li­che christ­li­che Gemein­schaft — die Urge­mein­de — gege­ben habe, die im Lau­fe der Zeit durch nega­ti­ve Ein­flüs­se von aus­sen, sei es durch Mys­te­ri­en­kul­te, die berüch­tig­te “Gno­sis” oder die grie­chi­sche Kul­tur zer­setzt wur­de und sich zer­split­ter­te. Durch das nicä­i­sche Glau­bens­be­kennt­nis sei die ursprüng­li­che “rei­ne Leh­re” wie­der­her­ge­stellt und dann durch die kirch­li­chen Hier­ar­chien bis in die heu­ti­ge Zeit wei­tert­ra­diert worden.

Die­ses Bild der Ent­wick­lung des Chris­ten­tums könn­te fal­scher nicht sein. Nach dem Kreu­zi­gungs­tod Jesu ent­stand in kür­zes­ter Zeit eine kaum über­schau­ba­re Anzahl von “Chris­ten­tü­mern” mit zum Teil höchst unter­schied­li­chen Glau­bens­vor­stel­lun­gen, die sich oft erbit­tert bekämpf­ten und sich gegen­sei­tig der “Häre­sie” beschul­dig­ten. Der pro­mi­nen­te Erfor­scher der Gene­sis des Neu­en Tes­ta­ments Barth Ehr­man zählt in sei­nem Buch “Lost Chris­tia­nities” Fra­gen auf, mit denen die ers­ten christ­li­chen Gemein­den kon­fron­tiert waren und die sie unter­schied­lich beantworteten:

Was genau muss man über Gott glau­ben, um mit ihm im Rei­nen zu sein? Dass er der höchs­te Gott ist, der über allen ande­ren Göt­tern steht? Dass er der ein­zi­ge Gott ist und dass es kei­ne ande­ren gibt? Dass er die Welt erschaf­fen hat? Dass er bis jetzt nie etwas mit der Welt zu tun hat­te? Dass er das Böse in der Welt geschaf­fen hat? Dass er völ­lig vom Bösen ent­fernt ist? Dass er die jüdi­schen Schrif­ten inspi­riert hat? Dass eine gerin­ge­re Gott­heit die­se Schrif­ten inspi­riert hat?

Was muss man über Jesus glau­ben? Dass er ein Mensch war? Ein Engel? Ein gött­li­ches Wesen? War er ein Gott? War er Gott? Wenn Jesus Gott ist und Gott ist Gott, wie kön­nen wir dann Mono­the­is­ten sein, die an einen Gott glau­ben? Und wenn der Geist auch Gott ist, haben wir dann nicht drei Göt­ter? Oder ist Jesus Gott der Vater selbst, der auf die Erde gekom­men ist, um die Welt zu erlö­sen? Wenn ja, hat Jesus dann, als er zu Gott bete­te, zu sich selbst gesprochen?

Und was an Jesus brach­te die Erlö­sung? Sei­ne öffent­li­chen Leh­ren, die, wenn sie befolgt wer­den, den Weg zum ewi­gen Leben wei­sen? Sei­ne gehei­men Leh­ren, die nur für die geis­ti­ge Eli­te bestimmt sind, deren rich­ti­ges Ver­ständ­nis der Schlüs­sel zur Ein­heit mit Gott ist? Sei­ne Lebens­wei­se, die von sei­nen Nach­fol­gern vor­ge­lebt wer­den soll, die wie er alles, was sie haben, um des Rei­ches Got­tes wil­len auf­ge­ben müs­sen? Sein Tod am Kreuz? Starb er am Kreuz? War­um soll­te er am Kreuz sterben?

Die Fra­gen mögen end­los erschei­nen, aber ihre Bedeu­tung war ewig. Denn sobald es wich­tig wur­de, was ein Mensch glaub­te — so wich­tig, dass das ewi­ge Leben davon abhing -, began­nen die Debat­ten. Und es bil­de­ten sich ver­schie­de­ne Stand­punk­te her­aus. Alle Stand­punk­te berie­fen sich natür­lich auf die Leh­ren Jesu — auch die Ansich­ten, die behaup­te­ten, dass es 365 Göt­ter gab, dass Jesus nicht wirk­lich ein Mensch war, dass sein Tod nur ein Trick war, um die kos­mi­schen Mäch­te zu täu­schen. Heu­te wür­den wir es viel­leicht für Unsinn hal­ten, zu behaup­ten, Jesus und sei­ne irdi­schen Anhän­ger hät­ten sol­che Din­ge gelehrt, denn schließ­lich kön­nen wir aus den neu­tes­ta­ment­li­chen Evan­ge­li­en erse­hen, dass dies ein­fach nicht stimmt. Aber wir soll­ten immer die his­to­ri­schen Fra­gen stel­len: Woher haben wir unse­re neu­tes­ta­ment­li­chen Evan­ge­li­en über­haupt, und woher wis­sen wir, dass sie und nicht die Dut­zen­den von Evan­ge­li­en, die nicht Teil des Neu­en Tes­ta­ments wur­den, die Wahr­heit über das, was Jesus lehr­te, offen­ba­ren? Was wäre, wenn der Kanon am Ende die Evan­ge­li­en von Petrus, Tho­mas und Maria und nicht die von Mat­thä­us, Mar­kus und Lukas ent­hal­ten hätte? (…)

Zu den fas­zi­nie­ren­den “Ent­de­ckun­gen”, die Gelehr­te in der Neu­zeit gemacht haben, gehört die Erkennt­nis, wie unter­schied­lich die­se christ­li­chen Grup­pen von­ein­an­der waren, wie “rich­tig” sich jede von ihnen fühl­te und wie eif­rig sie ihre eige­nen Ansich­ten gegen­über denen der ande­ren ver­trat. Und doch hat nur eine Grup­pe die­se frü­hen Kämp­fe gewon­nen. Selbst die­se eine Grup­pe war jedoch kein Mono­lith, denn inner­halb der brei­ten Kon­tu­ren des theo­lo­gi­schen Kon­sen­ses, den sie zu schaf­fen ver­moch­te, gab es rie­si­ge uner­schlos­se­ne Gebie­te und gigan­ti­sche Schwa­den lehr­mä­ßi­ger Halb­schat­ten, schat­ti­ge Berei­che, in denen Fra­gen unge­löst blie­ben, bis spä­te­re Run­den von Ver­such und Irr­tum, Dog­ma­tis­mus und Ket­zer­jagd, zu wei­te­ren Debat­ten und teil­wei­sen Lösun­gen führten.

Die­se eine Grup­pe, die sich schliess­lich durch­setz­te, wird “pro­to-ortho­dox” genannt, und aus ihr ent­wi­ckel­te sich im Wes­ten Schritt um Schritt die “katho­li­sche”, das heisst “allein­se­lig­ma­chen­de, alles umfas­sen­de” Kir­che.

Wie ent­schei­dend sich das Bild von Jesus und sei­nen Jün­gern unter­schei­det je nach­dem, ob man ein “kano­ni­sches”, also von der “pro­to-ortho­do­xen” Par­tei aner­kann­tes Evan­ge­li­um oder ein “apo­kry­ph­res”, also von ihr nicht aner­kann­tes Evan­ge­li­um zu Rate zieht, soll in der nächs­ten Fol­ge am Bei­spiel des in Nag Ham­ma­di ent­deck­ten wahr­schein­lich im syri­schen Raum ent­stan­de­nen “Tho­mas-Evan­ge­li­um” gezeigt wer­den, und dies wie immer

am kom­men­den Sams­tag, den 29. Juli.

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