Die Haudenosaunee, welche die Engländer gegen die rebellischen Kolonien unterstützten, hatten von der Krone ein Refugium jenseits des Grand River erhalten, — auf dem Territorium des Dominion Kanada, einer sich mehr und mehr selbstverwaltenden Kolonie innerhalb des britischen Weltreichs. Für die Haudenosaunee, die weder von den Briten noch den Amerikanern je militärisch besiegt worden waren, war dieses Refugium — so klein es auch war — ein völkerrechtlich eigenständiges Gebilde. Das sah das kanadische Innenministerium allerdings anders.
Damit war ein Konflikt programmiert, der bis heute nicht gelöst ist. Er bildet den Stoff für den 2020 erschienenen Roman von Willi Wottreng, Ein Irokese am Genfersee. Eine wahre Geschichte. Die darin geschilderten Ereignisse sind zwar in den Details romanhaft aufbereitet, halten sich aber strikt an die geschichtlichen Tatsachen.
Es ist die Geschichte des Cayuga Levi General, einem Holzfäller und Kleinbauern, der am 4. Juli 1917 von der Matrone im Clan des Jüngeren Bären anlässlich einer Zeremonie zu dessen Oberhaupt bestimmt wurde und den zugehörigen Titel “Deskaheh” erhielt, denn er stammte aus einer Familie, die Chiefs stellen durfte. Damit zog er als einer der Chiefs der Cayuga in den Rat der irokesischen Konföderation, der Six Nations, ein.
Willi Wottreng hat dem birsfaelder.li-Schreiberling grosszügig erlaubt, auf seine Recherchen zurückzugreifen und aus der Geschichte zu zitieren. Und so sei angesichts solcher Wahlen auch gleich die Reaktion des kanadischen Beamten Duncan Campbell Scott, stellvertretender Superintendent für indianische Angelegenheiten, vorgestellt:
Sie stehen am Abgrund der Historie. Sie vergeben Chieftitel, als handle es sich um eine Erbangelegenheit, völlig antiquiert: Der Feudalismus gehört auf den Müll der Geschichte. Ein Stammeswirrwar mit Clans und Lineages und Moieties. Alles bestenfalls Folklore. Die ganzen Rollenträger, Schicksals- und Feuerhüter, die Clanmütter. Alles Brimborium. Alle sind sie Individuen. Und alle Individuen sind gleich. Das ist die Lehre der Französischen Revolution.
Wir Kanadier sind für den Fortschritt. Wir sind für die Demokratie. Alle Menschen sind gleich, wie gesagt. Auch bei den Indianern. Aber die dort verstehen sich als etwas Besseres. Immer beanspruchen sie Sonderrechte. Und immer gibt es Humanisten, die ihnen Unterstützung gewähren. Sogar die englischen Suffrageten interessieren sich für Indianerrechte.
Deskaheh war offensichtlich ein begabter Redner, denn schon ein Jahr später war er stellvertretender Sprecher des Rats:
Er hat nicht nur im Rathaus Aufgaben zu erfüllen. Er tritt auch im Langhaus auf, dem traditionellen Versammlungsraum. Da muss er Gebete sprechen, muss die alten Formeln wiederholen, muss wissen, wie man die höheren Wesen und die Vertreter der Clans anspricht. Und jede Rede muss rituellen Anforderungen genügen. Eine Rede für gute Ernte enthält ganz andere Textbausteine als eine für Einheit und Frieden.
1921 schliesslich wurde er zum Chief seiner eigenen Nation und zugleich Sprecher des Rats der Six Nations ernannt.
Der Job ist nicht einfach. Zweiundvierzig Häuptlinge sitzen im Rat der Föderation. Ihre politischen Vorschläge gehen oft weit auseinander. Und ihre Vorstellungen über Gott und die Welt auch. Christen sitzen da und Anhänger des Propheten. Gemeint ist jener Prophet aus dem Stamm der Seneca namens Handsome Lake, der im 19. Jahrhundert nach einer Bekehrungsvision mit seinen religiösen Lehren Aufsehen erregte und eine grosse Anhängerschaft um sich scharte. Er erliess Vorschriften, die zur Tugend anleiten sollten. Sie verboten ausdrücklich das Trinken von Alkohol, Zauberei und gewalttätige Auseinandersetzungen.
Die Meinungsverschiedenheiten weiten sich manchmal zu Grabenkämpfen aus, es kommt zu politischen Konflikten zwischen den Nationen der Six Nations und selbst innerhalb der Familien. Deskaheh lernt in diesen Disputen schnell die Dialekte all dieser Nationen, das schafft Vertrauen. Und er kann Englisch, das braucht man im Behördenverkehr.
Damit ist die Bühne für die Auseinandersetzung “Kanada versus Six Nations” bereitet. Entscheidend wichtige Fragen standen im Raum:
Gelten die Kriminalgesetze Kanadas auch auf dem Boden der Six Nations? Darf die Polizei nach illegalen Whisky Distillerien fahnden? Sollen sich die Irokesen mit der kanadischen Regierung arrangieren oder sich weiterhin dem Fortschritt, wie ihn Weisse definieren, verweigern? Soll die traditionelle Regierungsweise aufgegeben werden zugunsten eines Stammesrats, der nach den Regeln einer europäisch definierten Demokratie funktioniert?
Es gibt im Six Nations-Land unterschiedliche Fraktionen. Da sind die christlich geprägten Gruppen, die bis zu einem gewissen Grad mit der kanadischen Regierung zusammenarbeiten wollen, und es gibt die traditionellen Anhänger des Langhauses, die die Regierungsjustiz grundsätzlich ablehnen.
Deskaheh gehörte zur Langhaus-Fraktion, und er fand Unterstützung beim in Rochester lebenden amerikanischen Rechtsanwalt George P. Decker. Dieser hielt nämlich fest, dass die Six Nations 1784, als ihnen die britische Krone das Land am Grand River zusprach, nie eingewilligt hätten, irgendwelche Kompetenzen der Krone auf das kanadische Territorium zu übertragen. Ergo: Kanadische Beamte verschiedenster Couleur hatten auf irokesischem Territorium nichts zu suchen!
Als sich Zusammenstösse zwischen kanadischen Regierungsvertretern und indigenen Einwohnern häuften, beschloss der traditionelle Rat, eine Delegation der Chiefs nach London zu schicken. Deskaheh wurde beauftragt, zusammen mit Decker die britische Krone an ihr Versprechen zu erinnern.
Und so diktierte Deskaheh seinem Begleiter Decker am 19. August 1921 auf dem Schiff nach Europa einen Brief an den damaligen Premierminister David Lloyd George:
Ich bin in London auf einer Mission meines Volkes, der Six Nations vom Grand River, um Ihrer Majestät dem König eine Petition zu überbringen. Der Anlass meiner Mission ist die Entscheidung der kanadischen Dominion-Regierung, uns zu kanadischen Bürgern zu erklären und uns als separates Volk auszulöschen. 1784 hatte König George III. Ländereien am Grand River erworben. Auf Einladung der britischen Krone, die den Six Nations ihre bleibende Unabhängigkeit zu sichern versprach, wanderten diese dahin aus und liessen sich an den Ufern des Grand River nieder. Wir halten am Versprechen fest, dass unserem grossen Chief Brant durch den König gemacht wurde, demzufolge der König von England jederzeit bereit ist, für das Wohlergehen unseres Volkes heute und in Zukunft zu sorgen.
Ich bitte respektvoll um ein Treffen, um Ihnen meine Beglaubigungen zu überreichen und um eine Gelegenheit zu vereinbaren, Ihrer Majestät unsere Petition zu präsentieren.
Deskaheh, Speaker of the Council and Deputy of the Six Nations, Chief of the Cayuga Nation.
Damit betrat zum ersten Mal nach dem Besuch von vier Haudenosaunee-Chiefs im Jahre 1710 wieder ein weiterer Chief europäischen Boden.
Dazu mehr in der nächsten Folge am Donnerstag, den 29. September, — und der Völkerbund muss noch etwas warten …
P.S. Willi Wottreng hat übrigens neben der Deskaheh-Geschichte eine ganze Reihe weiterer spannender Bücher geschrieben!
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