Was hat Wiki­pe­dia zum Begriff “Ani­mis­mus” zu sagen?
Ein­ge­führt wur­de der Begriff 1871 von dem Anthro­po­lo­gen Edward Bur­nett Tylor. Nach Tylor ist Ani­mis­mus die frü­hes­te von Men­schen ent­wi­ckel­te Form der Reli­gi­on. Grund­vor­aus­set­zung war nach sei­ner Vor­stel­lung die Idee einer per­sön­li­chen, lei­bunab­hän­gi­gen, frei beweg­li­chen See­le (→ Frei­see­le), die zwangs­läu­fig auch den Glau­ben an eine Wei­ter­exis­tenz nach dem Tod, Wie­der­ge­burt u. ä. ein­schloss. Obwohl die Eth­no­gra­phie ein brei­tes Spek­trum an von­ein­an­der abwei­chen­den Dar­stel­lun­gen belegt, ver­ein­heit­lich­te Tylor die­se Ideen und schrieb zudem auch leb­lo­sen Gerä­ten und Gütern prin­zi­pi­ell eine „Gegen­stands­see­le“ zu. Er schluss­fol­ger­te, dass sich dar­aus zuerst noch objekt­ge­bun­de­ne, spä­ter freie, über­ge­ord­ne­te Geis­ter und schließ­lich die Göt­ter ent­wi­ckelt haben sol­len, um zuletzt in der zen­tra­len Gestalt eines ein­zi­gen Got­tes oder in einem all­ge­mei­nen Pan­the­is­mus aufzugehen.

Die Men­schen hät­ten nach Tylor ihre frü­hes­ten Gesell­schafts­sys­te­me auf Grund­la­ge des Ani­mis­mus gebaut, um zu erklä­ren, war­um Din­ge gesche­hen. Als er dies ver­öf­fent­lich­te, galt sei­ne Theo­rie als poli­tisch radi­kal, weil sie Völ­kern ohne Buch­re­li­gi­on zuge­stand, tat­säch­lich eine Reli­gi­on zu haben.
(hier der voll­stän­di­ge Wikipedia-Artikel)

Was meint Jack For­bes dazu?
»Ani­mis­mus« ist der ein wenig gering­schät­zi­ge Begriff, den euro­päi­sche Gelehr­te jahr­zehn­te­lang den Natur­re­li­gio­nen Afri­kas, Asi­ens und Ame­ri­kas gege­ben haben. Von »Ani­mis­mus« zu spre­chen, ist eine »hüb­sche« Art und Wei­se, »Hei­den« und »Pri­mi­ti­ve« zu umschrei­ben. Aber viel­leicht ist »Ani­mis­mus« gar kein so schlech­tes Wort, denn es hat mit Leben zu tun, es heißt so viel wie »Lebens-ismus«. Viel­leicht ist es das, was wir brau­chen, Lebens-ismus, mehr Respekt vor dem Leben, mehr Respekt vor den Leben­den, mehr Respekt vor allen For­men des Lebens. Das ist ein Baum, der gute Früch­te getra­gen hat und immer noch trägt.
»Ani­mis­mus« ist kei­ne »Reli­gi­on«, kei­ne »Kir­che«, kei­ne »Sek­te«, kei­ne »Bewe­gung«. Es ist Rich­tung, eine Ten­denz, ein Auf­zei­gen, ein Gefühl, und das ist gut so, denn sobald eine »Reli­gi­on« einen »Namen«, eine Struk­tur, ein fes­tes Glau­bens­be­kennt­nis hat, ist sie wahr­schein­lich gar kei­ne Reli­gi­on mehr.

Als Bei­spiel für die­ses “ani­mis­ti­sche Gefühl” zitiert er ein Früh­lings­ge­dicht der Len­ni Len­ape:
Mei­ne Ver­wand­ten, ich bin am heu­ti­gen Tage dank­bar dafür, daß wir dar­an den­ken, wie der Segen kommt, wenn sich unser väter­li­che Gro­ße Geist an uns erin­nert und daß wir leben, um gemein­sam den Früh­ling zu begrü­ßen. Dar­um sind wir dank­bar, wenn wir alles sprie­ßen sehen und die groß­vä­ter­li­chen Bäu­me ihre Knos­pen tra­gen. Jetzt sieht die gan­ze Erde schön aus …
Das füh­len wir auch, wenn unser älte­rer Bru­der, die Son­ne, sei­ne Hit­ze schickt. Er mag uns, und dar­über hin­aus geben uns unse­re Groß­vä­ter, die Gewit­ter, viel Was­ser. Das hat alles unser Vater, der Schöp­fer, geschaffen. Man sagt auch, daß jeder Mani­tu [spi­ri­tu­el­le Kraft] betet, denn manch­mal hören wir unse­re groß­vä­ter­li­chen Bäu­me auf­rich­tig beten, wenn der Wind vor­bei­streicht. Das genügt, um jeden zum Den­ken zu brin­gen, aber auch um Freu­de zu brin­gen ange­sichts der wun­der­vol­len Wer­ke unse­res Vaters und dar­über, wie sie uns das gan­ze Jahr über beeinflussen.
(Frank G. Speck, Okla­ho­ma Dela­ware Cere­mo­nies, Feasts and Dances)

Abge­se­hen davon, dass auch in die­sem Gedicht vom “väter­li­chen Gros­sen Geist” gespro­chen wird, der hin­ter der natür­li­chen Schöp­fung steht, ist die Ver­wur­ze­lung in der Natur und das tie­fe Gefühl der Ver­wandt­schaft mit ihr offen­sicht­lich. For­bes kommentiert:
Die Tat­sa­che unse­rer abso­lu­ten, tota­len und voll­stän­di­gen Abhän­gig­keit von der Erde wird von india­ni­schen Leh­rern bei­spiels­wei­se als Teil des Selbst­ver­ständ­nis­ses auf­ge­faßt. Es ist empi­risch völ­lig klar, daß wir nicht nur Kin­der sind, die ihr gan­zes Leben an der Brust unse­rer Mut­ter Erde sau­gen, son­dern daß wir auch ein Teil des­sen sind, was Euro­pä­er als »Umwelt« bezeich­nen.

Für uns gibt es im Grun­de kei­ne »Umge­bung«.

Wie völ­lig abhän­gig wir von die­ser “Umwelt” oder “Umge­bung” sind, illus­triert For­bes mit einem ein­fa­chen Beispiel:
Ich kann mei­ne Hän­de ver­lie­ren und den­noch leben. Ich kann mei­ne Bei­ne ver­lie­ren und den­noch leben. Ich kann mei­ne Augen ver­lie­ren und den­noch leben. Ich kann mein Haar ver­lie­ren, mei­ne Augen­brau­en, Nase, Arme und vie­le ande­re Tei­le, und den­noch lebe ich. Wenn ich aber die Luft ver­lie­re, ster­be ich. Wenn ich die Son­ne ver­lie­re, ster­be ich. Wenn ich die Erde ver­lie­re, ster­be ich. Wenn ich das Was­ser ver­lie­re, ster­be ich. Wenn ich die Pflan­zen und Tie­re ver­lie­re, ster­be ich. Sie alle sind mehr ein Teil von mir, not­wen­di­ger für jeden mei­ner Atem­zü­ge als mein soge­nann­ter Kör­per. Was ist mein wirk­li­cher Körper?
Wir sind kei­ne unab­hän­gi­gen, sich selbst genü­gen­den Wesen, wie es die euro­päi­sche Mytho­lo­gie lehrt. Sol­che Ideen sind durch Deduk­ti­ons­lo­gik gewon­nen, die auf fal­schen Annah­men auf­baut. Wir sind genau­so ver­wur­zelt wie die Bäu­me.

Dass die­ser letz­te Satz nicht ein­fach nur eine bil­li­ge Meta­pher ist, kann jede® mit einer klei­nen Fünf-Minu­ten-Übung selbst erfahren:
Um zur inne­ren Ruhe und Gelas­sen­heit zu kom­men, set­ze ich mich hin und stel­le mir einen mäch­ti­gen Baum vor (eine Eiche, Lin­de, oder den eige­nen Lieb­lings­baum), des­sen Wur­zeln bis ins Zen­trum der Erde gehen und die­ses Zen­trum (z.B. eine rie­si­ge schwe­re Eisen­ku­gel oder ein Kris­tall) umfas­sen. Und nun stel­le ich mir vor, dass ich im Inne­ren des kraft­vol­len Stam­mes bin, geschützt, gebor­gen und zutiefst gelassen.
Wel­che Erfah­rung macht man dabei? — Sel­ber ausprobieren!

Wir blei­ben auch in der nächs­ten Fol­ge beim The­ma “Ani­mis­mus” und “Inter­de­pen­denz”, und dies wie immer in der nächs­ten Fol­ge am kom­men­den Don­ners­tag, den 13. Juli.

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Mattiello am Mittwoch 23/27
Die Reichsidee 94

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