“Er — der Grosse Geist, Wakan Tanka — braucht keine Kathedrale”, hatte der Sioux Ohiyesa, alias Charles Eastman in “The Soul of the Indian” geschrieben. Ihm pflichtete der Oglala-Sioux Luther Standing Bear in “Land of the Spotted Eagle” bei:
Der Indianer liebte es zu beten … Es war nichts zwischen ihm und dem Großen Heiligen. Der Kontakt war direkt und persönlich, und der Segen von Uakan tanka floß über den Indianer, wie sich Regen aus dem Himmel ergießt. Uakan tanka stand nicht abseits und war nicht laufend damit beschäftigt, böse Kräfte zu bezwingen. Er strafte die Tiere und Vögel nicht, und ebenso strafte Er den Menschen nicht. Er war kein strafender Gott. Denn die Frage nach der Vormachtstellung des Bösen über das Gute stellte sich niemals. Es gab nur eine herrschende Macht, das Gute.
Und dann macht Jack D. Forbes eine gewagte Analyse:
… es könnte die Entwicklung der massiven, abgekapselten Tempel und Kirchen, welcher Größe auch immer, in Asien und Europa sehr wohl mit der Entstehung der Wétiko-Seuche einhergehen. Warum? Vielleicht, da der Tempel oder die Kathedrale offensichtlich dazu dient, das Heilige vom Profanen, das Religiöse vom Weltlichen, den Bereich des Betens vom Bereich der Arbeit, des Geldverdienens und Tötens zu trennen.
Die Wétikos wollen wahrscheinlich, daß die Menschen ihre »Religion« in Gebäuden aufbewahren, wo sie vom täglichen Leben isoliert werden kann. Dann existiert die »Religion« als eine Idee außerhalb des »Lebens«, Anbetung kann größtenteils an einem besonderen Ort konzentriert werden, Priester und Prediger machen sich ein schönes Leben und erhalten große Macht, indem sie den Gebrauch der kleinen Gebäude kontrollieren, in denen das, was »heilig« ist, aufbewahrt wird.
Diese Beobachtung scheint mir angesichts der spirituellen Kraft, die z.B. von den grossen gotischen Kathedralen ausgeht, unzutreffend. Und dennoch: Trifft er mit seiner Analyse nicht doch einen wunden Punkt in unserer Gesellschaft? Die Parallelen zu der harschen Kritik von Leonhard Ragaz, die Christenheit habe Jesus im Grunde vergessen, weil sie ihn in einer rückwärtsschauenden Religion als “leidenden Gott” in die Kirchen eingesperrt und aus dem alltäglichen Leben ausgesperrt habe, sind nicht zu übersehen.
Forbes war aber kein radikaler Gegner des Christentums. Er sah eine authentische Form bei den Schwarzen verwirklicht,
da da sie, obwohl eingeschränkt durch Sektierertum und Formen der Kirchenorganisation, die aus Europa mitgebracht wurden, erfolgreich einen »Geist des Lebens« schufen, der auf Leiden, Teilen und Demut beruht und ihren Glauben durchdringt. Wenn man in einer schwarzen Kirche die Gemeinde ein Lied singen gehört hat, wie »If I Can Help Somebody« oder wenn man jemals den verstorbenen Martin Luther King jr. hat sprechen hören, so sollte man wissen, daß man das wahre Potential des Christentums in den Vereinigten Staaten erlebt hat.
Aber: Diese Menschen sind gefährlich in einer Wétiko-Welt. Gewöhnlich unterstützen die fundamentalistischen Prediger den Status quo. Sie verkaufen Religion anstatt gebrauchter Autos, aber ihre Welt besteht aus Nixons, Reagans und den »antikommunistischen« Militärimperien, und sie gedeihen in ihr. Im großen und ganzen geben die »Kirchen« keine Antwort auf die Wétiko-Psychose.
Interessant, dass die amerikanische spirituelle Lehrerin und Kämpferin für soziale Gerechtigkeit, Marianne Williamson, die als Kandidatin für die nächste Präsidentschaft in den USA 2024 antritt, zur gleichen Diagnose kommt wie Jack Forbes, auch wenn sie den Begriff “Wetiko” nicht gebraucht:
Eine Krebszelle ist eine Zelle, die wahnsinnig geworden ist. Sie hat sich von ihrer natürlichen Intelligenz abgekoppelt. Sie hat vergessen, dass sie hier ist, um mit anderen Zellen zusammenzuarbeiten, um dem gesunden Funktionieren des Systems zu dienen, dessen Teil sie ist. Sie hat sich von der ihr von der Natur zugewiesenen Rolle getrennt und andere Zellen, die ebenso krank sind wie sie selbst, zusammengetrieben, um ihr eigenes Reich in einer anderen Welt aufzubauen. Dieses falsche Reich, dieser bösartige Tumor, versucht, sich selbst zu erhalten, indem er mehr von sich selbst produziert. So bedroht er nicht nur seinen Wirt, sondern auch sich selbst.
Dies ist nicht einfach eine Beschreibung von Zellen im Körper. Es ist eine Beschreibung der Bösartigkeit des Bewusstseins, das die menschliche Rasse infiziert hat und den Menschen von seiner natürlichen Intelligenz trennt. Diese emotionale Bösartigkeit bedroht die gesamte Menschheit, so wie die Krankheit Krebs den Körper bedroht. Die Krankheit ist der falsche Glaube, dass wir voneinander getrennt sind und nur uns selbst gegenüber verantwortlich sind. Diese Verzerrung ist ein Krebsgeschwür, das zur Zerstörung unserer Spezies führen würde. Jetzt ist es an der Zeit, uns auf unsere wahre Funktion zu besinnen und zu unserer kollaborativen Mission zurückzukehren, indem wir mit anderen zusammenarbeiten uns uns der größeren Realität bewusst werden, von der wir alle ein Teil sind. Auf diese Weise werden wir alle geheilt werden.
Nächste Folge wie immer in der nächsten Folge am kommenden Donnerstag, den 15. Juni.
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