Wir haben gesehen, dass sich die Sicht von weissen Anthropologen auf indigene Gemeinschaften in Nordamerika nicht immer mit der Sicht der betroffenen Gemeinschaften über sich selber deckten. Der Konflikt über die Frage, inwiefern und ob überhaupt die irokesische Konföderation zur Entstehung der amerikanischen Verfassung beigetragen habe, ist ein eindrückliches Beispiel dafür, — aber beileibe nicht das einzige.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts drehten einige indianische Intellektuelle den Spiess sozusagen um und begannen, die westliche Gesellschaft und Kultur ihrerseits unter die Lupe zu nehmen und mit kritischem Blick zu analysieren. Dazu gehörten z.B. der Seneca John Mohawk, der langjährige Herausgeber der Akwesasne Notes — ein Text von ihm findet sich im birsfaelder.li -, der Powhatan/Lenape Jack D. Forbes, bekannt geworden durch sein Buch “Wetiko-Seuche. Eine indianische Philosophie von Aggression und Gewalt”, und vor allem der Yankton-Dakota Vine Deloria jr. mit Bestsellern wie “God is Red” oder “Custer Died for Your Sins”.
Die kommenden Folgen sind diesen indianischen Stimmen in Auszügen gewidmet. Wir erhalten einen Spiegel aus indigener Sicht vorgesetzt, — und die Frage ist, ob wir uns in diesem Spiegel wiedererkennen oder zur Feststellung gelangen, er zeige uns doch eher ein verzerrtes Portrait.
Den Anfang macht John Mohawk. Er hielt 1997 im Schumacher Center for a New Economics einen Vortrag mit dem Titel: Wie die Eroberung der Indigenen Völker mit der Eroberung der Natur einhergeht. (Ernst F. Schumacher schrieb 1973 den Bestseller “Small is beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Mass” Auch in Deutschland existiert eine Schumacher-Gesellschaft)
Hier einige Auszüge aus seinem Vortrag.
Als er in einem College Philosophie zu studieren begann, fiel ihm bald einmal auf:
In dem Kurs, für den ich mich anmeldete, lernte ich, dass es eigentlich nur eine Gattung von Philosophen gab, die eine enge Nische in der Welt des Denkens besetzten: Sie waren alle westeuropäisch, sie waren alle männlich, sie gehörten alle zu dem, was wir als Elite der privilegierten Klassen bezeichnen würden, und als Ganzes blieben sie innerhalb einer Reihe von Grenzen, die sie für sich selbst definierten. Sie gehörten sozusagen einem Club an. Jeder musste wissen, was der Vorgänger gesagt hatte, und jeder musste darauf aufbauen. Wenn ein Student den Professor zum Beispiel fragte, ob es in China oder Afrika Philosophen gäbe, lautete die mehr oder weniger knappe Antwort: Nicht, dass ich wüsste, und halten Sie sich an das Buch.
Dass philosophisches Denken seine Wurzeln einzig und allein in Europa habe, leuchtete ihm nicht ein:
Schließlich kann es in der gesamten Geschichte nicht nur einen einzigen Strom des Wissens gegeben haben. Ich denke, wir müssen die westliche Zivilisation studieren, um zu verstehen, wann bestimmte enge und begrenzte Denkweisen entstanden sind und was wir falsch gemacht haben. Deshalb habe ich mich pflichtbewusst mit den Grundlagen des westlichen Denkens befasst und versucht, es im Lichte anderer Kulturen zu verstehen. (…)
Als ich die griechische Philosophie studierte, fragte ich mich: Wer waren diese Griechen, die uns das gaben, was wir als Grundlage unseres Denkens und unserer Kultur betrachten, und die uns unsere Vorstellungen von Natur und Gesellschaft gaben? Ich machte bald einen Unterschied zwischen dem, was die Griechen sagten, und dem, was sie taten. Mein Philosophieprofessor hatte eine Gruppe von Männern beschrieben, die unter einem Baum saßen und philosophierten; ich sah sie als einen arroganten Haufen, der glaubte, eine neue und bessere Art zu haben, über die Welt zu denken.
Stimmt das Bild, das Mohawk von der griechischen Philosophie zeichnete?
Tatsächlich nur bedingt: Es gab ganz im Gegenteil griechische Philosophen, deren Weltbild mit jenem der Indigenen verblüffend viele Parallelen aufweist. Eindrückliches Beispiel dafür sind etwa Parmenides und Empedokles. Der Philosophiehistoriker Peter Kingsley hat ihre “indigene” Weltsicht in seinen faszinierenden Büchern “In the Dark Places of Wisdom”, “Die Traumfahrt des Parmenides” oder “Reality” ausgeleuchtet.
Einen wichtigen Charakterzug “westlichen” Denkens sieht Mohawk in einer Weltsicht, die er “utopische Ideologie” nennt, und er betrachtet sie als ein Grundübel “weissen” Denkens:
Utopische Ideologie in dem Kontext, in dem ich den Begriff verwende, bedeutet, dass Menschen eine Idee haben, sie haben einen Plan, und nach ihrem Plan ist eine utopische Gesellschaft am Ende ihres Weges. Alle Probleme der Menschheit werden durch das Erreichen dieses Ziels gelöst werden. Doch während sie ihr Ziel verfolgen, entdecken sie in der Regel, dass es andere Menschen gibt, die ihnen im Weg stehen oder zumindest den Boden besetzen, den sie für die Verwirklichung ihres Plans brauchen. Man kann keine utopische Gesellschaft schaffen, wenn man nicht bereit ist, ein paar Eier zu zerbrechen, und es ist fast immer notwendig, die Eier anderer Leute zu zerbrechen, um das Ziel zu erreichen.
Das Verständnis des Wesens der utopischen Ideologie hilft uns, Antworten auf bestimmte beunruhigende historische Fragen zu finden. In “Hitlers willige Vollstrecker” fragt Daniel Goldhagen: Wie konnte ein durchschnittlicher, gewöhnlicher deutscher Kirchgänger, von dem wir alle wissen, dass er ein voll akkulturierter Mensch der westlichen Zivilisation des 20. Jahrhunderts war, morgens aufstehen, nach draußen gehen, Frauen und Kinder kaltblütig erschießen und dann abends zurückkommen und zu Abend essen, als ob er nichts anderes täte als Widgets herzustellen? Wie können Menschen so kaltblütig handeln?
Nun, wir brauchen nur die wahre Geschichte der westlichen Zivilisation zu verfolgen, und wir werden sehen, dass es eine Episode nach der anderen gab, in der Menschen morgens aufstanden, hinausgingen und Menschen ermordeten.
Mohawk geht deshalb den negativen Folgen dieser Ideologie in der europäischen Geschichte nach. Dazu mehr in der nächsten Folge am kommenden Donnerstag, den 4. Mai
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