Im September 1987 wurde anlässlich der 200-Jahr-Feier der amerikanischen Verfassung eine Initiative zur offiziellen Anerkennung der wichtigen Rolle gestartet, die das Modell der Irokesen-Konföderation in den Formulierungen der amerikanischen Verfassung spielte. Im Oktober 1988 wurde schließlich die Resolution 331 von beiden Kammern der US-Bundesregierung verabschiedet. Darin hieß es ausdrücklich: “Wir erkennen den Beitrag der Irokesenkonföderation zur Entwicklung der Verfassung der Vereinigten Staaten an … Die ursprünglichen Autoren, darunter George Washington und Benjamin Franklin, waren dafür bekannt, dass sie die Sechs-Nationen-Prinzipien der Irokesenkonföderation sehr bewunderten.” Auch wenn diese Resolution im Senat und im Repräsentantenhaus in Washington Gnade fand, gibt es viele Debatten über die These, dass die Irokesen die US-Verfassung beeinflusst haben. Eine solche Schuld, wenn es sie denn gibt, ist nicht unbedeutend!
So schrieb die in den USA lebende Theologin Muriel Schmid im 2014 erschienenen Artikel “Un Iroquois sur le toit”. Und weiter:
Die Debatte über den möglichen Einfluss der Irokesen auf die amerikanische Verfassung stellt den Ursprung der demokratischen Ideale in Frage. In der Erzählung der modernen westlichen Demokratie wird den Vereinigten Staaten eine zentrale Rolle bei der Entfaltung der demokratischen Ideale zugeschrieben; sie gelten als die Gründer unserer Demokratien und als diejenigen, die das Politische und das Philosophische, die individuellen Rechte und die sozialen Pflichten harmonisch miteinander verknüpft haben. Mehr noch: Die in der amerikanischen Verfassung verankerten demokratischen Ideale werden in ihrem jüdisch-christlichen Kontext gelesen, als politische Übersetzung der Ideale des christlichen Glaubens. Die moderne westliche Demokratie wird so als direktes Produkt der Aufklärung und des Christentums dargestellt. In dem Moment, in dem einige Historiker diese Gründungserzählung hinterfragen, bricht ein ganzes Gebäude in sich zusammen. Kein Wunder, dass das nicht jedem gefällt!
Tatsächlich löste die Anerkennung irokesischen Einflusses auf die amerikanische Verfassung durch den Senat und das Repräsentantenhaus in den USA eine jahrelange erbitterte Auseinandersetzung zwischen etablierten weissen Anthropologen und den Wortführern einer neuen Sicht, Bruce E. Johansen und Donald A. Grinde aus, — wobei die Erbitterung vor allem auf seiten der etablierten Experten zu finden war.
Eine solche harte Auseinandersetzung ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich, weil sie ein Licht darauf wirft, wie sogenannte “objektive” Wissenschaft von höchst subjektiven Faktoren und Einflüssen gesteuert werden kann.
Johansen: Wir debattierten über ein bestimmtes Thema, aber auch über die allgemeinen Grundregeln der akademischen und öffentlichen Debatte. Welches waren die Standards für Fakten, die vor dem Gericht der öffentlichen und wissenschaftlichen Meinung zugelassen werden sollten? Wir würden auf viele Fälle missbräuchlicher Argumentation stoßen — die bereits erwähnte reductio ad absurdum-Taktik*, die Berufung auf Autoritäten**, Ad-hominen-Angriffe*** und Bevormundung****. Der Eifer der Debatte würde auch das Bewusstsein und die Neugier für den Einfluss der Irokesen und anderer indianischer Konföderationen auf die Entwicklung der Demokratie wecken.
Als die Debatte die akademischen Kreise verließ und in die breite Öffentlichkeit vordrang, wurden Glaubwürdigkeit und Fachwissen auf die Probe gestellt: Alte, sorgfältig aufgebaute und gepflegte Macht wurde durch eine neue Sichtweise auf die amerikanischen Ureinwohner und ihre Geschichte in Frage gestellt. Kurz gesagt, es war ein Test, wer reden durfte und wer zuhören würde.
- * Man übertreibt eine Aussage des Gegners massiv oder verzeichnet sie so stark, dass man sie anschliessend als absurd zurückweisen kann.
- ** “Schon der anerkannte Forscher/Experte/Wissenschaftler XY (Karl Marx, Sigmund Freud, usw. usf.) hat erkannt, nachgewiesen, dass …”
- *** “XY bringt das notwendige Fachwissen nicht mit, ist inkompetent, ist voreingenommen, ist gekauft, ist unfähig, seine eigene Position zu hinterfragen, …”
- **** “Wir wissen nach jahrelanger Forschung über XY besser Bescheid als XY über sich selber”
Wie das in der konkreten Auseinandersetzung um den irokesischen Einfluss funktionierte, ist das Thema der nächsten Folge am Donnerstag, den 9. März.
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