Ohne Sol­dat­en, Gen­dar­men und Polizis­ten, ohne Adel, Könige, Statthal­ter und Präfek­ten oder Richter, ohne Gefäng­nisse, ohne Prozesse geht alles seinen geregel­ten Gang. Allen Zank und Stre­it entschei­det die Gesamtheit der­er, die es ange­ht (…). Die Haushal­tung ist ein­er Rei­he von Fam­i­lien gemein und kom­mu­nis­tisch, der Boden ist Stammes­be­sitz, nur die Gärtchen sind den Haushal­tun­gen vor­läufig zugewiesen -, so braucht man doch nicht eine Spur unsres weitläufi­gen und ver­wick­el­ten Ver­wal­tungsap­pa­rats. Die Beteiligten entschei­den, und in den meis­ten Fällen hat jahrhun­derte­langer Gebrauch bere­its alles geregelt. Arme und Bedürftige kann es nicht geben — die kom­mu­nis­tis­che Haushal­tung und die Gens ken­nen ihre Ver­pflich­tun­gen gegen Alte, Kranke und im Kriege Gelähmte. Alle sind gle­ich und frei — auch die Weiber, schrieb 1884 der promi­nente sozial­is­tis­che Schrift­steller in seinem berühmt gewor­de­nen Werk  “Der Ursprung der Fam­i­lie, des Pri­vateigen­tums und des Staats” über die Irokesen.

Friedrich Engels, der enge Mitar­beit­er von Karl Marx, berief sich dabei auf die Stu­di­en von Lewis Hen­ry Mor­gan.
Bekan­ntheit erre­ichte Mor­gan durch seine Feld­forschun­gen bei den Iroke­sen­völk­ern. Stark betrof­fen von der Ungerechtigkeit, mit der die Indi­ge­nen Völk­er von der Amerikanis­chen Regierung behan­delt wur­den, half Mor­gan den Seneca juris­tisch in ihrem Kampf gegen die Odgen Land Com­pa­ny. Er wurde von den Seneca als ein­er der ihren adop­tiert. Sie gaben ihm den Namen “Tayadaowuhkuh” — “ein­er der Brück­en baut” (zwis­chen Indi­an­ern und Weißen). (Wikipedia)

Thomas Wag­n­er fasst die bis heute wirk­enden poli­tis­chen Iroke­sen­bilder unter diese drei Schlag­worte zusammen:
eine gewalt­bere­ite Autonomie
eine Gesellschaft der Freien und Gleichen
die Über­win­dung ein­er all­ge­gen­wär­ti­gen Män­ner­herrschaft durch ein Matriarchat

Sein Kom­men­tar dazu:
Alle drei Motive deuten darauf hin, dass es zum beste­hen­den Gesellschaft­szu­s­tand poli­tis­che Alter­na­tiv­en gibt .… Gewiss han­delt es sich dabei um eurozen­trische Pro­jek­tio­nen eines exo­tis­chen anderen (…). Und doch wäre es vorschnell, aus dem unbe­strit­te­nen Sachver­halt ein­er schliesslich durchge­set­zten europäis­chen Vorherrschaft von vorne­here­in zu schliessen, dass jene Bilder, die in Europa und den Kolonien von den indi­an­is­chen Gesellschaften ver­bre­it­et wur­den, nicht auch Verdich­tun­gen von Erfahrun­gen mit den konkreten Anderen waren, dazu geeignet, gewohnte Denksch­ablo­nen zu spren­gen und für die Wahrnehmung von sozialen und poli­tis­chen Alter­na­tiv­en zu öffnen.

Genau diese These ver­tritt der Anthro­pologe David Grae­ber in seinem Weltbest­seller “Anfänge. Eine neue Geschichte der Men­schheit”, worin er nach­weist, welch grossen Ein­fluss der Kon­takt zwis­chen den indi­an­is­chen Volk­ern um die Grossen Seen und den europäis­chen Kolonisatoren auf die Ideen der Aufk­lärung hat­te.

Wieviel wir den indi­ge­nen Kul­turen in Nord- und Südameri­ka ver­danken, hat der Anthro­pologe Jack Weath­er­ford in seinem Buch “Indi­an Givers” ein­drück­lich zusam­menge­fasst. Das wird inzwis­chen auch all­seits anerkan­nt. Wenn es aber um die Frage des poli­tis­chen Ein­flusses geht, ist der Wider­stand ungebrochen:
Nach wie vor gilt es wohl vie­len His­torik­ern und Poli­tik­wis­senschaftlern genau­so wie den meis­ten “Laien” als Selb­stver­ständlichkeit, dass demokratis­che Ideen und Prak­tiken, in ihren antiken und mod­er­nen Vari­anten, als eine beson­dere Leis­tung ger­ade der europäis­chen Geschichte anzuse­hen seien. Das Bild vom “Edlen Wilden”, wie es die europäis­che Aufk­lärung pop­u­lar­isierte, erscheint in dieser Per­spek­tive fast auss­chliesslich als eine Pro­jek­tion eurozen­trischen Wunschdenkens.

Als Wag­n­er 1996 auf ein­er Reise durch nor­damerikanis­che Indi­an­erreser­va­tio­nen  auch auf der iroke­sis­chen Six Nations-Reser­va­tion im kanadis­chen Ontario halt machte, stiess er auf das Buch “Indi­an Roots of Amer­i­can Democ­ra­cy” von José Bar­reiro, in dem ver­suchte wurde, den iroke­sis­chen Ein­fluss auf die Entste­hung der amerikanis­chen Ver­fas­sung nachzuweisen.
Das The­ma provozierte in den USA vielerorts zunächst nur rat­los­es Kopf­schüt­teln. Denn aus­gerech­net im lib­eralen Ostküsten­staat New York — bis heute die Heimat auch der meis­ten Iroke­sen inner­halb der USA  — glaubten viele, bei den Indi­an­ern han­dele es sich um Leute, dir fern von ihrem eige­nen Leben­sum­feld west­lich des Mis­sis­sip­pi lebten. … In den achtziger und neun­ziger Jahren ent­bran­nte dann eine heftige Debat­te, die unter ein­er grossen Medi­en­res­o­nanz geführt wurde und sich durch ein in diesem Aus­mass noch bekan­ntes Engage­ment indi­an­is­ch­er Wis­senschaftler und Poli­tik­er für ein The­ma ausze­ich­nete, das die etablierten Sozial- und Geschichtswis­senschaften son­st wohl rasch als obskure Verir­rung bei­seite gelegt haben würden.

Dieser Auseinan­der­set­zung ist die näch­ste Folge am kom­menden Don­ner­stag, den 15. Dezember

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