Tho­mas Wag­ner ist ein inter­es­san­ter Autor. Einer, der hin­ter ober­fläch­li­chen Schlag­wor­ten her­aus­fin­den will, was wirk­lich ist. Das macht ein Blick in eini­ge sei­ner Bücher sofort deutlich:

In sei­nem Buch Die Mit­mach­fal­le (2013) kri­ti­siert Wag­ner Stra­te­gien und Ver­fah­ren zur Bür­ger­be­tei­li­gung: Par­ti­zi­pa­ti­ons­ver­fah­ren, so sei­ne Kern­the­se, wür­den von Behör­den und Unter­neh­men flä­chen­de­ckend zur Ent­schär­fung demo­kra­ti­scher Pro­tes­te instru­men­ta­li­siert. In Robo­kra­tie. Goog­le, das Sili­con Val­ley und der Mensch als Aus­lauf­mo­dell (2015) warnt er vor der in For­schungs­la­bo­ren ent­wi­ckel­ten, von der Sin­gu­la­ri­ty Uni­ver­si­ty ver­brei­te­ten und von kali­for­ni­schen Mil­li­ar­dä­ren geför­der­ten Idee einer „tech­no­lo­gi­schen Sin­gu­la­ri­tät“ (Ray Kurz­weil) oder „Super­in­tel­li­genz“ (Nick Bos­trom). Sin­gu­la­ri­tät zie­le dar­auf, Men­schen durch intel­li­gen­te Maschi­nen zunächst zu ver­bes­sern und lang­fris­tig an den Rand zu drän­gen bzw. tech­nisch im Sin­ne des Trans­hu­ma­nis­mus umzuwandeln. (…)

Wag­ners Buch Die Angst­ma­cher: 1968 und die Neu­en Rech­ten (2017) nann­te Ste­fan Locke in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung ein Werk, „das sich in einem Punkt wohl­tu­end unter­schei­det und so zum Erkennt­nis­ge­winn bei­trägt: Er redet mit den Prot­ago­nis­ten der Sze­ne, und er liest ihre Schrif­ten, bevor er über sie schreibt.
Nach Wag­ner sei 1968 nicht nur der Beginn eines links­li­be­ra­len Gesell­schafts­mo­dells, son­dern auch Neu­be­ginn der poli­ti­schen Rech­ten gewe­sen, die zuneh­mend von Akti­ons­for­men der 68er gelernt habe. So rie­fen Rech­te heu­te nach mehr direk­ter Demo­kra­tie, kri­ti­sier­ten die Mei­nungs­macht der Medi­en und die Reli­gi­on, vor allem den Islam, ver­teu­fel­ten Kapi­ta­lis­mus und poli­ti­sche Kor­rekt­heit und ver­ur­tei­len Kriege.
Die pau­scha­le Ein­ord­nung als „rechts“ schie­ne bis heu­te für nicht weni­ge in Poli­tik und Medi­en alles zu erklä­ren. Nur sel­ten tren­ne man zwi­schen kon­ser­va­tiv, rechts­po­pu­lis­tisch, rechts­ra­di­kal und rechts­ex­trem. „In einer Mischung aus Feig­heit und Faul­heit“ wer­de so ver­sucht, jede wei­te­re Aus­ein­an­der­set­zung zu ver­mei­den, was etwa Pegi­da und der AfD erst recht Zulauf besche­re. Wag­ner wer­fe die Fra­ge auf, ob ein offen geführ­ter Streit nicht der bes­se­re Weg sei, sich mit rech­ten Intel­lek­tu­el­len aus­ein­an­der­zu­set­zen. „Eine hart geführ­te Dis­kus­si­on, eine argu­men­ta­ti­ve Aus­ein­an­der­set­zung“ sei eben kei­ne Kapi­tu­la­ti­on vor dem Bösen, son­dern Aus­weis einer demo­kra­ti­schen Streit­kul­tur, von der auch die Geg­ner der „Neu­en Rech­ten“ pro­fi­tie­ren könn­ten, indem sie ihre Posi­tio­nen schärf­ten und neue Per­spek­ti­ven ken­nen­lern­ten.
(Wiki­pe­dia)

So dürf­te es sich auch loh­nen, einen Blick in sei­ne 2004 erschie­ne­ne Dis­ser­ta­ti­on “Iro­ke­sen und Demo­kra­tie” zu wer­fen, in der er sich eben­falls hin­ter Schlag­wor­ten und Pro­jek­tio­nen ein objek­ti­ves Bild der Hau­deno­saunee (“Lang­haus­volk”) und des­sen geschicht­li­che Bezie­hung zu den euro­päi­schen Kolo­ni­sa­to­ren zu ver­schaf­fen sucht.

Das beginnt schon mit der Fra­ge, inwie­fern nun die Grün­dungs­ge­schich­te des Iro­ke­sen­bunds mit Degana­wi­dah und Hia­wa­tha denn his­to­risch gese­hen wahr sei oder nicht. Wag­ner macht deut­lich, dass die Fra­ge­stel­lung an sich schon kei­nen Sinn macht, indem er den Ägyp­to­lo­gen und Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Jan Ass­mann zitiert:
Geschich­te, die nicht ein­fach gewusst, son­dern erin­nert (“bewohnt”) und zum Motor der eige­nen Ent­wick­lung gemacht wird, ist Mythos. Damit ist über die Fik­ti­vi­tät oder His­to­ri­zi­tät gar nichts gesagt. Mythos ist eine Geschich­te, die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu ori­en­tie­ren, eine Wahr­heit höhe­rer Ord­nung, die nicht ein­fach nur stimmt, son­dern dar­über hin­aus auch noch nor­ma­ti­ve Ansprü­che stellt und for­ma­ti­ve Kraft besitzt.

Die­se Defi­ni­ti­on des Mythos passt natür­lich auch per­fekt auf unse­re Geschich­te von Wil­helm Tell, dem der birsfaelder.li-Schreiberling ja eine län­ge­re Serie gewid­met hat.

Als Mythos, jetzt im nega­ti­ven Sinn ver­stan­den — näm­lich als ver­fäl­schen­de Pro­jek­ti­on — ver­weist Wag­ner gleich zu Beginn auf die ambi­va­len­ten Sicht­wei­sen, die wir Euro­pä­er auf die nord­ame­ri­ka­ni­schen Indi­ge­nen projizierten:
Sie chan­gier­ten zwi­schen dem Schreck­ge­spenst eines fins­ter bli­cken­den “Wil­den” mit dem noch blut­trie­fen­den Skalp des heim­tü­ckisch über­fal­le­nen Opfers in der stets zu neu­en Unta­ten berei­ten Hand und dem hel­di­schen Her­ren des Wald­lan­des, der sich unab­hän­gig und unbeug­sam dem Ansturm sei­ner in immer neu­en Wel­len her­an­bran­den­den Fein­de ent­ge­gen­stellt. Als Krie­ger zeigt “der India­ner” die Ambi­va­lenz des Par­ti­sa­nen der Tra­di­ti­on, wird bewun­dert für sei­nen lis­ten­rei­chen Wider­stand auf längst ver­lo­re­nem Pos­ten, aber auch gefürch­tet für die schwer kal­ku­lier­ba­re Grau­sam­keit ent­fes­sel­ter Wildheit. 

Die von sei­ner Haar­tracht aus­ge­hen­de Pro­vo­ka­ti­on fand in Form des Iro­ke­sen­schnitts Ein­gang in die jugend­li­chen Sub­kul­tu­ren des aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­derts, nun als Chif­fre einer dezi­diert herr­schafts­feind­li­chen Hal­tung, als Sym­bol unbe­schränk­ter Frei­heit oder doch zumin­dest als Abgren­zungs­mar­ke gegen die Zumu­tun­gen über­kom­me­ner Auto­ri­tä­ten. Hier geht die ideo­lo­gisch noch indif­fe­ren­te Figur des gewalt­be­rei­ten Heroe über in den Strei­ter für eine “Gesell­schaft ohne Chef und Staat”.

Bereits gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts sah ein pro­mi­nen­ter sozia­lis­ti­scher Schrift­stel­ler in der iro­ke­si­schen Gesell­schaft einen Beweis dafür, dass die herr­schaft­li­che Orga­ni­sa­ti­on von Gesell­schaf­ten nicht als eine anthro­po­lo­gisch ver­an­ker­te Uni­ver­sa­lie ver­stan­den wer­den dürfe …

Wer die­ser pro­mi­nen­te sozia­lis­ti­sche Schrift­stel­ler wohl gewe­sen ist?

Dazu mehr in der nächs­ten Fol­ge am Don­ners­tag, den 8. Dezem­ber.

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