Angesichts der dramatischen Ereignisse zuhause und wegen seines fragilen Gesundheitszustands beschloss Deskaheh schweren Herzens, mit leeren Händen nach Hause zurückzukehren. Das heisst: wenigstens in die Nähe, auf der amerikanischen Seite, denn Kanada machte klar, dass er für das Land eine “persona non grata” war. Die kanadischen Behörden waren gerade daran, ihm unter einem Vorwand das Farmland wegzunehmen.
Am 3. Januar 1925 ging er an Bord eines französischen Schiffes, kam sechs Tage später in New York an und fuhr anschliessend nach Rochester zu seinem Freund, Anwalt George P. Decker.
Nun hat er plötzlich viel Zeit. Er bleibt diesseits der Grenze. In Rochester, dieser Stadt, die auf dem einstigen Boden seines Volkes steht, empfängt er Freunde aus den Six Nations und führt Gespräche mit den Vertretern der abgesetzten Erb-Chiefs.
Noch einmal bereitet er eine grosse Rede vor: “Dies ist die Geschichte der Mohawk, der Oneida, der Cayuga, der Onondaga, der Seneca und der Tuscarora. Sie sind Irokesen. Ich habe diese Geschichte in der Schweiz erzählt, in einem Land, wo die Redefreiheit gilt.”
Die Rede wird am 10. März über Radio WHAM in Rochester ausgestrahlt und erregt Aufmerksamkeit. Er wendet sich an die Jugendlichen aller Kontinente. “Es geht nicht um eine Auseinandersetzung mit Kanada”, sagt er. Es geht um das Recht der Minderheiten in der Welt, nach ihrer Art zu leben.
(sämtliche Auszüge aus Willi Wottreng, Ein Irokese am Genfersee)
Diese Rede sollte zu seinem Testament werden. Sein Gesundheitszustand begann sich wieder rapide zu verschlechtern. Brustfellentzündung, ein Abszess in der rechten Lunge. Kurze Erholung und ein letzter Besuch des Ortes, von dem er nach Europa aufgebrochen war: das Haus des jungen Tuscarora-Chiefs Clinton Rickard.
Während seines Aufenthalts im Haus von Häuptling Rickard im Tuscarora-Reservat (im Staat New York) erkrankte Deskaheh und schickte nach seinem traditionellen Medizinmann aus dem Six-Nations-Reservat in Kanada. Doch der Medizinmann durfte die Grenze nicht überschreiten. Die USA hatten gerade das Einwanderungsgesetz von 1924 verabschiedet, das allen, die kein Englisch sprachen, die Einreise verweigerte …
Obwohl sich die Maßnahme gegen Asiaten richtete, erlaubte sie insgeheim auch den Ausschluss nordamerikanischer Indianer und so auch des traditionell aufgewachsenen Medizinmanns, der den Englischtest nicht bestand, da er nur seine eigene Sprache sprach. Er schaffte es nicht bis zu Deskaheh, der schließlich im Haus von Häuptling Rickard starb. (Wikipedia)
Rickard gründete aufgrund dieser Erfahrung ein Jahr später zusammen mit anderen Chiefs die “Indian Defense League” mit dem Ziel, für die Indigenen das ungehinderte Reisen zwischen den USA und Kanada zu fördern. Er rief die jährliche Grenzübertrittszeremonie ins Leben, um den Indianern das Recht zu bescheinigen, die Grenze ohne Gebühren oder Behinderung durch die kanadische oder amerikanische Regierung zu überqueren.
Deskaheh starb am 27. Juni 1925.
Die Leiche wird ins Grand-River-Land überführt. Tot darf er die Grenze passieren.
Der Leichenzug schwillt an, als der Rückkehrer sich Ohsweken nähert. Auf der letzten Meile begleiten ihn zweitausend Menschen. Es mischen sich die alten Kostüme der Autochthonen mit den Anzügen der modernen Gesellschaft.
Auf dem Rathaus wird die Flagge auf Halbmast gesetzt. Es ist nicht die Flagge des Six-Nations-Staates. Es ist die kanadische Staatsflagge. Nach den Zeremonien im Langhaus wird der tote Chief auf den Friedhof der traditionell Gläubigen gebracht. Und zur Verbrennung vorbereitet.
Zehn Tage nach dem Tod ihres grössten Chiefs führen sie vor dem ganzen Volk sorgfältig ihre Riten aus, die Mohawk, Seneca, Onondaga, die Cayuga, Oneida und Tuscarora. Es eröffnet der Sprecher des alten illegalen Föderationsrates …
Keine Erregung ist spürbar, eine grosse Ruhe liegt über dem Feld. In Gesängen werden die Namen der Chiefs aufgezählt, denen Deskaheh nachfolgte. Die Wampums werden dreizehnmal herumgereicht. Die Worte der Redner scheinen einen Moment in der Luft zu verharren: “Er war unbestechlich, man konnte ihn nicht kaufen.” … Schliesslich versammeln sich die Chiefs und die Mitglieder der Familie zum Festessen mit Kornsuppe, Fleisch und Kuchen.
Die Clanmutter Louise Miller ernennt den jüngsten Bruder des Verstorbenen, Alexander General, zum neuen Deskaheh.
Die Rede vom 10. März. die von Radio WHAM übertragen wurde, ist erhalten geblieben.
Dazu mehr in der nächsten Folge am Donnerstag, den 10. November
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