Während Deskaheh sich wieder langsam erholte und auf die Septembersession des Völkerbunds hoffte, begann die Unterstützung für sein Anliegen für einen souveränen eigenen Staat abzubröckeln: Die englische “Anti-Slavery and Aborigines’ Protection Society” kam zum Schluss, seine unnachgiebige Haltung belaste zunehmend das Verhältnis zwischen Grossbritannien und Kanada.
Auch Monsieur Junod von der Irokesenkommission meinte, dass wohl eine pragmatischere Haltung angezeigt sei, sprich: die Klärung der Statusfrage durch eine Schlichtungskommission. Dies ungeachtet der Tatsache, dass Deskaheh sie seit jeher als parteiisch ablehnte, weil sie lediglich aus kanadischen Richtern bestand. Sein Telegramm:
“Six Nation Council, stand firm!” Gebt nicht nach. “Unparteiische Schiedsgerichtsbarkeit”! Das ist die Parole. (sämtliche Auszüge aus Willi Wottreng, Ein Irokese am Genfersee)
Inzwischen machte Kanada Nägel mit Köpfen.
17. September 1924: Die Mounted Police lässt in Ohsweken, der zukünftigen Hauptstadt des Irokesenstaats, ein Ultimatum anschlagen:
Wenn der Rat der Indigenen sich weigert, das demokratische Wahlsystem anzunehmen, und weiter darauf besteht, dass die Erbchiefs durch Frauen ernannt werden, müssen wir ihn absetzen.
7. Oktober 1924: Tag der ordentlichen Versammlung der traditionellen Stammesfürsten: Inspektor Morgan und der verantwortliche Offizier samt etlichen Rotjacken betreten den Versammlungsort des Stammesrates. Mit ihnen einige Oppositionelle, die Üblichen. Es gibt ein kurzes Handgemenge.
Vor den Delegierten erklärt Morgan den Rat der Six Nations für aufgelöst. Schweigen ist die Antwort. Schweigen, das Blut gefrieren lässt. Keiner greift zum Messer, keiner zum Tomahawk. Jeder weiss: Gott ist Zeuge. Gott ist gerecht. Gott ist unerbittlich. Nur einer der Chiefs erhebt sich, um zu reden. Und schweigt dann, als hätte er vergessen, was er sagen will. Und setzt sich wieder. Und erhebt sich noch einmal, ohne etwas zu sagen.
Demokratische Wahlen für einen neuen Rat wurden angekündigt. Sechs Wahlbezirke. Zwölf Ratsmitglieder. Zur Sicherheit wurden mit Waffengewalt möglichst viele Wampums mit den alten Verträgen konfisziert. Erstellung einer grossen Polizeikaserne.
Als Deskaheh all das hört, weiss er, dass seine Macht schwindet. Lange hat er Konservative und Modernisten, Anhänger der Langhaus-Religion und christlich Gesinnte einigermassen zusammenhalten können. Jetzt ist er zu weit weg. Jetzt driften die vierundachtzig Chiefs auseinander, jetzt machen sich die Blöcke selbständig. …
Deskaheh und sein Rat hatten einen eigenen Staat angestrebt. Den ersten und einzigen Indigenen-Staat in Nordamerika. Das Gebilde hatte schon sein Zweikammersystem, sein Rathaus, seine Flagge, seine Hauptstadt und einen möglichen Staatspräsidenten. Nun scheint das Projekt zerschlagen.
Doch weiterhin gibt es Widerstand.
Eine Volksversammlung hat beschlossen, die aufgezwungenen Wahlen zu boykottieren. Achthundert Erwachsene haben der Resolution zugestimmt.
So findet die kanadische Regierung auch keine freiwilligen Kandidaten für die Ratssitze. Weshalb indigene Angestellte der Indianerbehörde zur Kandidatur gedrängt werden. In fünf der sechs Bezirke werden mangels Bewerbern die offiziellen Kandidaten sogleich in stiller Wahl gewählt. Offen bleibt ein Bezirk.
Protest kam aus Schottland, eine einsame Stimme: Sara Robertson Matheson, ein von Missionaren entführtes Irokesenkind, 1919 als Ka-thi-tsa-non-nen von den Irokesen wieder adoptiert, hatte Deskaheh auf seiner ersten Reise in London empfangen und richtete nun einen flammenden Aufruf “An die Frauen in der Welt”, in dem sie gegen die Entrechtung irokesischer Frauen durch Kanada protestierte.
Aber das war’s auch schon.
Der neue Rat beschliesst in allem das Gegenteil von dem, was bisher gegolten hat. Deskahehs Recht auf Repräsentation der Six Nations wird annulliert. Der Rat erklärt, dass Levi General nie die Mehrheit der Six Nations vertreten habe. Die Geldsammlung für Deskahehs Mission wird als illegal betrachtet. Einzelne Mitglieder drohen, Deskaheh etwas anzutun, sollte er zurückkehren.
Inspektor Morgan verkündet, dass man seitens der kanadischen Behörden, nachdem diese den alten Rat nicht mehr finanziert hatten, die neuen Ratsherren der Six Nations wieder honorieren werde.
Kurz: Deskaheh stand vor einem Scherbenhaufen. Wie weiter?
Dazu mehr in der nächsten Folge, wie immer
am kommenden Donnerstag, den 3. November.
P.S. Wer die ganze spannend und ausführlich erzählte Geschichte von Deskaheh kennenlernen möchte, dem sei das Buch von Willi Wottreng, auf dem diese Folge basiert, wärmstens empfohlen!
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