Im Jahre des Herrn 1653 tauchte im Entlebuch ein Lied auf, das sich innert kürzerster Zeit wie ein Lauffeuer verbreitete. Es ist unter dem Namen “Tellenlied” in die Geschichte eingegangen. Als Einstieg in die heutige Episode schlägt der Schreibende vor, vorerst diesen Text anszuschauen und es sich dann in der Version von Urs Hostettler anzuhören:
Das Lied entstand in einer der dramatischsten Episoden der Alten Eidgenossenschaft, welche deren Struktur beinahe von Grund auf revolutioniert hätte: der Bauernkrieg 1653. Nackte Gewalt, Verrat und brutale Rache seitens der städtischen Obrigkeiten verhinderten das.
(Achtung: In dieser Episode finden sich ein paar Originaltexte: Viel Spass beim Entziffern ;-))
Die Eidgenossenschaft im 17. Jahrhundert hatte sich von der Idealvorstellung einer “Gemeinschaft der Freien” weit entfernt. In den Stadtorten hatte ein geschlossener Zirkel patrizischer Familien die politische Macht inne, die oft im Zusammenhang mit dem Söldnerwesen dank ausländischer Pensionen zu Reichtum gelangt waren. Die Landbevölkerung ihrerseits war zu eigentlichem Untertanenland unter der Herrschaft von Vögten geworden.
Im 30-jährigen Krieg war die alte Schweiz verschont geblieben, ja sie hatte wirtschaftlich dank Exporten in die Kriegsgebiete sogar profitiert. Nach dem Krieg kam es zu einer Krise: Die Exporte brachen ein und führten gerade bei den Bauern zu einem Preiszerfall. Viele hatten sich während der günstigen Konjunktur verschuldet und gerieten jetzt angesichts sinkender Einkommen und steigender Schuldzinsen in eine Schuldenspirale.
Auch die Städte kämpften wegen ausbleibender Pensionenzahlungen aus Spanien und Frankreich mit finanziellen Schwierigkeiten. Sie versuchten das Problem mit einem verstärkten fiskalischen Zugriff — Konsumsteuern, Zölle, höhere Bussen — auf die bäuerlichen Haushalte zu lösen, was naturgemäss zu grossem Unmut führte. Direkter Auslöser für den ersten Aufstand im Entlebuch war aber die Abwertung des Batzens (kupferne Handmünzen).
Am 9. Januar 1653 sprach eine Entlebucher Delegation beim Rat in Luzern vor, “früntlich vnderthanig vnd jngebür mit grosser pitt», wie es sich für Untertanen gebührte. Sie wurden nicht einmal angehört und kehrten gedemütigt heim. Das hatte Folgen: Schon einen Monat später versammelten sich die Entlebucher zu einer Wallfahrt mit anschliessender Landsgemeinde bei Heiligkreuz. Das war allerdings seit dem Stanser Verkommnis verboten.
Und dann schworen sie noch einen Bund — auch verboten! — , hatten Knüppel dabei — sowieso verboten! — und beschlossen einen sofortigen Zins- und Zehntenstreik — Revolte!!
Eine Delegation der luzernischen Obrigkeit reiste daraufhin nach Schüpfheim und versuchte, die Wogen bei einem guten Essen und einem Fässchen Wein zu schlichten. Ohne Erfolg: Anstatt sich zu den Herren zu setzen, sangen in der Nacht 700 bewaffnete Entlebucher das Tellenlied, und am folgenden Tag paradierten schon 1400 Mann durch das Dorf, angeführt von drei Tellen, “bekleidt, wie man die drei Eidtgenossen zu malen pflegt”. Der eine von ihnen trug eine Armbrust, die beiden andern repräsentierten Werner Stauffacher von Schwyz und Arnold von Melchtal von Uri. Ihre Kostüme hatte Pannermeister Hans Emmenegger bezahlt, dem die Obrigkeit in Luzern die Audienz verweigert hatte. Arroganz hat manchmal ihren Preis …
Und jetzt ging es Schlag auf Schlag: Schon zwei Wochen später wurde in Wolhusen ein weiterer Bund geschlossen, der nun alle Luzerner Untertanen umfasste. Luzern geriet in Panik, suchte gemäss dem Stanser Abkommen Hilfe bei den andern katholischen Orten. Doch schon griffen die Unruhen anfangs März auf die Untertanengebiete von Bern, Solothurn und Basel über.
Jetzt war rasches Handeln seitens der Städte gefragt. Luzern und Bern machten den revoltierenden Bauern weitreichende weitreichende finanzielle Zugeständnisse, verweigerten jedoch jegliche Zugeständnisse politischer Art und bestanden auf der Einwilligung der Untertanengesandten, die obrigkeitlichen Kosten zu übernehmen, die Bestrafung der Anführer zu akzeptieren, mit einem Kniefall vor dem Rat Abbitte zu leisten, den Untertaneneid zu erneuern und ihre Revolte als schweres Verbrechen anzuerkennen.
Acht von zehn Luzerner Ämtern willigten in das Verhandlungsangebot ein, — aber ohne die Entlebucher! Diese waren nicht bereit, ihr Vorgehen einseitig als “… wieder Gött- und weltliche Recht, mit hindansetzung ihrer schuldigen Eidespflicht” qualifizieren zu lassen. Sie pochten auf die Mitschuld der Obrigkeit!
Und nicht nur das: Es gelang ihnen auch, die Emmentaler, die kurz zuvor dem eidgenössischen Vermittlungsvorschlag zugestimmt hatten, auf ihre Seite zu ziehen. Und dann der revolutionäre Vorschlag bei einem Treffen, «die landtluth der eidgnosschaft und für den Anfang Bern, Lucern, Solothurn und Basel zusammen [zu] verpündten, wylen dz die oberkeitten auch zuosammen verpüntet.»
Gesagt, getan: “Dorum wir vß der herrschafft Bern, Lucärn, Solothurn vnd Basel gebiett vnd vß den hienach genambten orthen sint zu º samen kommen, aldo mir vnß früntlich ersprachen haben wegen vnseren beschwerden vnd sonderbaren vrsachen halber, vnd dorüber vf freyem fäld einheilig ein vfgehebten ewigen stif, stäthen vnd vesten eydt vnd pondt zu º dem wahren vnd ewigen gott zu º sammen hand geschworen” (Eid am 23. April in Sumiswald)
Und nicht nur das: Am 14. Mai wurde in Huttwil feierlich ein neuer Bundesbrief beschworen. «Jn nammen der hochheiligen dryfaltikeit gott vatter sohn vnd heiliger geist amen. So hant mir zu º osamen geschworen in disem ersten artikel, daß mir den ersten eydgnösischen pont, so die vralten eydtgnossen vor ettlich hundert jaren zu º samen hand geschworen, wellen haben vnd erhalten, vnd die vngrechtikeit helfen ein anderen abthu º n, schütz vnd schirmen mit lyb, haab, gu º ott vnd bluott, also dz waß den herren vnd oberkeiten gehört sol ihnen bliben vnd gäben werden, vnd waß vnß buren vnd vnderthonen gehörte, sol auch vnß bliben vnd zu º ogestelt werden …” Auch er sollte wie die eidgenössischen Bünde “ewig” gelten. Auch er war ein Protest gegen die Willkürherrschaft der Obrigkeit. Er verlangte eine politische Mitbestimmung der Landbevölkerung, — insbesondere das freie Versammlungsrecht.
Doch die Städte hatten noch einen entscheidenden Pfeil im Köcher: Das Stanser Verkommnis von 1481 verbot genau dieses Recht ausdrücklich, genauso wie die Aufwiegelung von Untertanen anderer Orte. Auch der Bundesbrief von 1291 — der damals schon lange unbekannt in einem Archiv verstaubte -, verlangte, “dass jeder nach seinem Stand seinem Herren geziemend dienen soll.”
Doch die Bauern sahen das völlig anders. André Holenstein, Historiker an der Uni Bern: “Sie hatten vielmehr jene Erzählung aus dem «Weissen Buch von Sarnen» und aus der späteren eidgenössischen Chronistik im Sinn, die vom Aufstand der drei Waldstätten gegen die tyrannischen Vögte handelte, von der Verschwörung um den Schwyzer Stauffacher, vom Helden und Tyrannenmörder Wilhelm Tell aus Uri und von der Gründung der Eidgenossenschaft durch den Schwur der ersten Eidgenossen auf dem Rütli.
Die aufständischen Bauern reihten sich und ihre Aktion in diese früheidgenössische Befreiungstradition ein. Sie erklärten sich zu legitimen Sachwaltern des ersten Bundes, den sie handhaben und erhalten wollten. Und sie konnotierten diesen ersten Bund mit der Vorstellung eines ursprünglichen, gerechten Kampfes gegen die Ungerechtigkeit. Indem sie sich gleichsam zu Treuhändern und Willensvollstreckern des ersten Bundes und als legitime Nachkommen der ersten Eidgenossen erklärten, eigneten sich die Bauern die im gemeineidgenössischen kulturellen Gedächtnis verankerte Gründungserzählung auf spezifische Art und Weise an. Sie nutzten das historische Argument, die Vorväter hätten sich mit ihrem Bund gegen die Ungerechtigkeit gewehrt, offensiv und setzten dieses zur Rechtfertigung ihres eigenen Widerstands gegen die neuen Herren ein. Die Erzählung begründete für sie in der aktuellen politischen Situation ein Widerstandsrecht, sie rechtfertigte «sogar die radikale Absicht einer revolutionären Veränderung der etablierten Herrschaft.”
“Ach Tell, ich wollt dich fragen: Wach auf von deinem Schlaf! die Landvögt wend alls haben, Roß, Rinder, Kälber, Schaf.», so hiess es im Tellenlied.
André Holenstein: “Die drei Tellen im Entlebuch inszenierten sich als Gründer des ersten eidgenössischen Bundes. In diesem Sinne sprach man von ihnen als von den drei Tellen. Offenbar galt Tell in dieser populären Vorstellung so sehr als Stifter des ersten Bundes, dass sein Name auch auf die beiden anderen Figuren des Schwurtrios vom Rütli übertragen wurden und es also geradezu zu einer Verdreifachung des Wilhelm Tell kommen konnte.”
Die Zeichen standen auf beiden Seiten auf Sturm. Auf beiden Seiten wurden in aller aller Eile Truppen zusammengezogen: Der Bauernkrieg brach los, — und die drei Tellen mittendrin …
Darüber mehr in der nächsten Folge!
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