Seitenauszug aus “Ejn Antwurt Huldrychen Zvinglis Valentino Compar alten Landtschrybern zuo Ure …”
Wer heute nach unserem Helden googelt, stellt bald einmal fest, dass sein “Image” neuerdings ziemlich angekratzt ist und zwielichtig wird: Versteckt sich hinter dem Freiheitshelden vielleicht einfach nur ein ziemlich feiger Meuchelmörder, der sein Attentat aus dem Hinterhalt ausführt, anstatt sich dem bösen Vogt kühn wie ein ehrenwerter Mann zum Zweikampf zu stellen?
Tell — ein zwiespältiger Mythos?
Dieser Frage werden wir in einer späteren Folge nachgehen müssen. In dieser Folge steckt Tell allerdings selber in einem Zwiespalt: Neuerdings — wir schreiben inzwischen das 16. Jahrhundert — wird er nämlich gleichzeitig von zwei Parteien in Anspruch genommen, die sich gar nicht grün sind. Sein Dilemma: Wer hat recht? Auf welche Seite soll er sich schlagen?
Wer im Schweizergeschichte-Unterricht damals in der Schule nicht schlief, hat vielleicht schon messerscharf kombiniert: 16. Jahrhundert — zwei Parteien, hmm … Das kann nur der Bruch sein, der die 13 Orte im Nachgang zur Reformation entzweite.
Werfen wir also einen kurzen Blick zurück: Infolge der gravierenden Missstände innerhalb der alleinseligmachenden Katholischen Kirche kommt es in Mitteleuropa ausgelöst von Luther, Zwingli und Calvin zu einem eigentlichen religiösen Erdbeben. Wer sein historisches Gedächtnis etwas auffrischen möchte, findet zur Reformation in der Schweiz hier einen ausführlichen Exkurs.
Die reformatorischen Bewegungen führten in der Eidgenossenschaft bekanntlich zu eigentlichen Zerreissproben und Spannungen, die sich über vier Jahrhunderte hinweg (!) im ersten und zweiten Kappelerkrieg, den Villmergerkriegen, ja bis hin zum Sonderbundskrieg immer wieder neu entluden.
Dass zum Glück hinter dem religiösen Konflikt das Gefühl einer eidgenössischen Gemeinschaft weiterlebte, zeigt die Episode der Kappeler Milchsuppe im ersten Kappeler Krieg.
Kriege wurden schon damals nicht nur mit Waffen, sondern auch mit der Schreibfeder geführt. Mitten hinein in diesen Federkrieg geriet nun auch Wilhelm Tell! Beide Parteien, die Alt- und die Neugläubigen — reklamierten unseren Helden für sich. Der Historiker Guy P. Marchal beschreibt die Situation in seiner “Schweizer Gebrauchsgeschichte” so:
“Die Bünde der alten Eidgenossen waren im alten Glauben vor Gott und den Heiligen beschworen worden. Der Abfall von diesem Glauben wurde daher nicht nur als religiöses Problem empfunden. Er bringe nicht nur Ungehorsam und Aufstand der Untertanen und Entbehrung für die ganze Eidgenossenschaft, er zerrütte und zerbreche auch “alle unser pünd, so wir Eydgenossen zu einandern hand”, argumentierten die Sechs katholischen Orte 1524 bei ihren Verhandlungen mit den Reformierten. Im Dezember 1525 sah man mit dem Abfall vom gemeinsamen Glauben auch die Gemeinsamkeit der Bünde aufgelöst. Die katholischen Orte beschlossen, die Bünde so lange nicht mehr zu beschwören, als die anderen auf ihrem Unternehmen beharrten. Das war nicht nur Gegenstand hoher Bündnispolitik, sondern ging tiefer: Hans Salat berichtet, wie die neugläubigen Zürcher 1524 die Fünf Orte mit dem Kuhspott überschütteten. Ein wenige Jahre zuvor noch völlig undenkbarer Vorgang, der zeigt, wie weit die Identitätskrise schon fortgeschritten war. Spätestens seit der Katastrophe von Kappel fing man an, sich gegenseitig die innere Gemeinschaft mit den frommen Altvorderen abzusprechen.”
Die Altgläubigen hatten allein schon geografisch einen Vorteil: Immerhin hatte die ganze Befreiungsgeschichte auf ihrem Territorium stattgefunden! Die Spaltung sei von den Reformierten ausgegangen, und es gebe nur eine Lösung, “dass ir widerumb in den weg und die Fussstapffen ewerer frommen voreltern, in den wahren allein seeligmachenden catholischen römischen glauben tretten wöllend”. Damit war klar: der Tell gehört uns!
Da war für die Neugläubigen guter Rat teuer … Wie konnten sie ihrerseits ihren Anspruch auf Tell und die glorreiche alte Zeit geltend machen? Nun, sie behalfen sich mit einem eleganten Kunstkniff: Die heroische Zeit der Bundesgründung habe mitnichten etwas mit der katholischen Religion zu tun, sondern die Altvorderen hätten ihre Kraft aus einem “uralten christlichen apostolischen Glauben” — also eine Art “Urchristentum” jenseits der aktuellen konfessionellen Streitigkeiten geschöpft. Guy P. Marchal: “Mit diesem Rückgriff auf das gemeinsame “Urchristentum” war nun auch … der Weg frei, die ganze Geschichte von den Bundesgründern über alle Schlachtensiege bis hin zu Bruder Klaus … als allen Eidgenossen gemeinsame Heilsgeschichte zu erfassen. … (Dieser Rückgriff) erlaubte es auch den Neugläubigen, sich legitimerweise in den Fussstapfen der Altvorderen zu sehen und die Vorstellung der Altgläubigen, dass eidgenössischer Bund und katholische Religion nicht zu trennen seien, zu umgehen.”
Damit war auch Wilhelm Tell für die Neugläubigen gerettet, und Ulrich Zwingli konnte deshalb in seiner Schrift “Ejn Antwurt Huldrychen Zvinglis Valentino Compar alten Landtschrybern zuo Ure” Tell wieder für alle 13 Orte in Anspruch nehmen: “der gotskrefftig held und erster anheber eidgenossischer fryheit … ursprung und stiffter einer loblichen Eydgnoschaft” (siehe Titelbild).
Es gab zwar auch später durchaus noch Versuche, Tell ein konfessionelles Mäntelchen umzuhängen, — z.B. im zweiten Villmergerkrieg, als sich die Gegner gegenseitig als Gessler und Tyrannen beschimpften und die zentralschweizerischen Orte nach der Niederlage bei Villmergen 1712 den Bund auf dem Rütli symbolisch erneuerten. Aber der gemeinschaftsbildende Aspekt des Tell-Mythos war schliesslich — und zum Glück für uns Nachfahren — stärker.
In den Villmergerkriegen spielten nicht nur der religiöse Konflikt, sondern auch soziale Spannungen eine Rolle. Erinnern wir uns: “Freiheit” war in der Alten Eidgenossenschaft ein relativer Begriff. Es gab die “Gemeinen Herrschaften”, und die Stadtorte hatten ihre eigenen Untertanengebiete. Freiheit — Untertanen … Es wäre höchst erstaunlich, wenn Tell da nicht ein Wörtchen mitzureden gehabt hätte!
Dazu mehr in der nächsten Folge!
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