Alfred Berch­told

Wer der Mei­nung sein soll­te, dass sich die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem “Mythos Tell” in der Schweiz des 20. Jhdts. auf die Reak­ti­vie­rung wäh­rend der Bedro­hung im 2. WK (Tell 2) und die anschlies­sen­de Ent­my­tho­lo­gi­sie­rung beschränkt, liegt falsch.

Leon­hard Ragaz

Alfred Berch­told, der gros­se Brü­cken­bau­er zwi­schen der Roman­die und der Deutsch-schweiz, wid­met im lei­der ver­grif­fe­nen Tell-Buch von Lil­ly Stun­zy der Dis­kus­si­on um den Mythos nach 1900 immer­hin gan­ze 42 Sei­ten! Illus­tre und weni­ger bekann­te Namen tau­chen auf. Hier eine klei­ne Auswahl:

- Der gros­se Theo­lo­ge Leon­hard Ragaz: “Wir sin­gen und sagen von Tell und Stauf­fa­cher und haben den Gess­ler­hut mäch­tig und hoch­ge­ehrt über­all unter uns. … Machet das Sinn­bild des Tell aus einem Hohn wie­der zu
einer Wahr­heit!

— Die KPS liess 1922 Tell ver­kün­den: “Ich mache mei­nen hoch­wohl­löb­li­chen Eid­ge­nos­sen bekannt, dass ich ab 1. August Bol­sche­wik gewor­den bin!
— Dage­gen hielt 1927 der Schrift­stel­ler Jakob Büh­rer: “Nicht noch mit Hass gehäs­sig tren­nen, was ohne eige­nen Wil­len ein­an­der fremd in frem­den Klas­sen wuchs!
— In der Aus­ein­an­der­set­zung der 30er-Jah­re zwi­schen dem His­to­ri­ker Karl Mey­er, der an der geschicht­li­chen Exis­tenz Tells fest­hielt, und Hans Nab­holz, wel­cher der kri­ti­schen Schu­le ange­hör­te, mein­te die­ser: “Die see­li­sche Grund­stim­mung, aus der her­aus die Eid­ge­nos­sen­schaft geschaf­fen wur­de, jener unbeug­sa­me Wil­le zur Selbst­re­gu­lie­rung, … jene bren­nen­de Lie­be zur Unab­hän­gig­keit, sind ver­kör­pert in der Über­lie­fe­rung. Sie  bewahrt indes­sen ihre sym­bo­li­sche Bedeu­tung nur dann, wenn wir nicht den Ver­such machen, “sie durch gewalt­sa­me Retou­chen und will­kür­li­che Aus­le­gung in den his­to­ri­schen Rah­men hin­ein­zu­pres­sen

Mein­rad Inglin

- Mein­rad Ing­lin, Max Edu­ard Lieh­burg, Fritz Ernst (“Wil­helm Tell als Frei­heits­sym­bol Euro­pas”), Georg Thü­rer, Edu­ard Ren­ner (“Gol­de­ner Ring über Uri”) sind wei­te­re Per­sön­lich­kei­ten, die vor dem zwei­ten WK die Dis­kus­si­on um Tell belebten.

Geben wir das Schluss­wort in die­sem Rei­gen dem Anthro­po­so­phen Curt Eng­lert-Faye,
für den Tell “kein beauf­trag­ter Reprä­sen­tant des “Vol­kes” ist, son­dern eine auf sich selbst gestell­te Indi­vi­dua­li­tät, aus eige­ner Kraft als Eigen­we­sen in der Welt ste­hend. Gera­de weil er eine Geis­tes­ge­stalt, kei­ne his­to­ri­sche Figur übli­cher Artung ist, hat er so stark gewirkt und Geschich­te gemacht.
Wenn der ein­zel­ne Schwei­zer, zum “Tel­len” wer­dend, durch die stil­le und offe­ne Tat wahr macht das Wort:
Wür­de der Bund auch tau­send­mal im Schwei­z­er­land geboren,
Und nicht in dir, du bleibst doch ewig­lich verloren,
dann wird die Eid­ge­nos­sen­schaft leben als ein ewig Fort­wir­ken­des in der Welt, selbst wenn die Schweiz auf dem Kar­ten­bild Euro­pas aus­ge­löscht wer­den soll­te.”

Nach dem zwei­ten Welt­krieg kam unser Tell dann aller­dings ziem­lich unter die Räder: Max Frisch zeich­ne­te in “Wil­helm Tell für die Schu­le” das Bild eines begriffs­stut­zi­gen Berg­lers, der nur durch sei­ne eige­ne Dumm­heit in die Apfel­schuss­ge­schich­te hineinrutschte.

Der His­to­ri­ker Mar­cel Beck mein­te: “Die Über­win­dung Tells (scheint) gera­de­zu eine Not­wen­dig­keit zu sein, geht es doch dabei auch um den Tell in uns, des­sen Macht­drang man­che Din­ge ent­schlüp­fen, die eher zu einem Staa­te des Faust­rechts, nicht aber zum Recht­staa­te pas­sen”.
Und sein Schü­ler Otto Mar­chi dop­pel­te in “Schwei­zer Geschich­te für Ket­zer” gleich nach: “Die Haupt­auf­ga­be die­ses Buches besteht … dar­in, zu zei­gen, dass Tell heu­te weder mög­lich noch not­wen­dig ist … und dass unser natio­na­les Selbst­be­wusst­sein nicht auf Legen­den beru­hen darf.

Ins glei­che Horn stiess der Pfar­rer und Schrift­stel­ler Kurt Mar­ti, wenn er mein­te: “Der Ver­lust des Tell-Mythos ändert unser heu­ti­ges Den­ken und Ver­hal­ten eben­so­we­nig wie sei­ne Bei­be­hal­tung. … Er hat sei­ne his­to­ri­sche Funk­ti­on … erfüllt. Gelas­sen kön­nen wir ihn jetzt ins Muse­um stel­len.”

Ein­spruch vom Bas­ler Lite­ra­tur­his­to­ri­ker Wal­ter Muschg : Wir hät­ten “schon des­halb Ursa­che (Schil­lers Tell) hoch­zu­hal­ten, weil er noch immer zuerst ver­bo­ten wird, wenn irgend­wo die Frei­heit eines Vol­kes unter­drückt wer­den soll, und man zuerst ihn wie­der spielt, wenn die Befrei­ung gelun­gen ist.

Peter Bich­sel seufzt etwas resi­gniert: “Es bleibt uns wohl nichts ande­res übrig, als mit Tell zu leben; ich betrach­te ihn als Bal­last, aber selbst ich per­sön­lich kann ihn nicht ganz abwer­fen. … Und ich geste­he auch, dass ich kürz­lich — wie ich zufäl­lig vor­bei­kam — die Hoh­le Gas­se ohne zyni­sches Lächeln besich­tigt habe.”

Fazit: Wil­helm Tell ist offen­sicht­lich ein­fach nicht totzukriegen!
Alfred Berch­told dürf­te recht haben, wenn er festhält:
Ein Mythos ist poly­va­lent, unbe­re­chen­bar und unver­füg­bar. Kei­ne Fest­tags­phra­seo­lo­gie macht ihn leben­dig, wenn es nicht an der Zeit ist. Plötz­lich erscheint er, wo man ihn nicht ver­mu­te­te …

Aktu­ell erscheint er in der Schweiz gera­de im SVP-Dunst­kreis. Es lohnt sich, die SVP-Gran­den beim inbrüns­ti­gen Mit­sin­gen von “Wo e Wil­ly isch, isch au e Weg” zu bewun­dern ;-). Wil­helm Tell als Vor­läu­fer der SVP-Geisteshaltung …
Zwar ver­such­te kürz­lich die Eco­no­mie­su­is­se Tell mit­tels eines Com­pu­ter­spiels mit dem “Super-Wil­li” gegen die Mas­sen­ein­wan­de­rungs­in­itia­ti­ve zu mobi­li­sie­ren, aber die Deu­tungs­ho­heit der SVP bleibt zur­zeit noch unangetastet.

2015 kreuz­ten Chris­toph Blo­cher und der His­to­ri­ker Tho­mas Mais­sen (“Schwei­zer Hel­den­ge­schich­ten — und was dahin­ter steckt”)  in einem Podi­ums­ge­spräch die Klin­gen, u.a. zum Tell-Mythos. Es lohnt sich, den ent­spre­chen­den Video­aus­schnitt (ca. 13 Minu­ten) anzu­schau­en, weil dar­in ent­schei­dend wich­ti­ge Fra­gen zur Rol­le des Mythos in der Geschich­te auf­ge­rollt werden.

Dar­auf gehe ich in mei­nem “Epi­log zu Wil­helm Tell”  abschlies­send ein.

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Aus dem Hafenwörterbuch: hafenaffin
Wilhelm Tell - ein Epilog

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