Wil­helm Tell in “Tell — die Leg­ende kehrt zurück!” — einem Com­ic von David Boller, der in den USA auch schon Spi­der­man und Bat­man zeich­nete. David Boller: “Tell ist … alles andere als ein Son­nen­schein. Nie­mand mit dem man ein Bier trinken möchte”.

Um es gle­ich vor­wegzunehmen: Diese Episode wird keine “pfan­nen­fer­tige” Antwort liefern, dafür hof­fentlich ein paar Anre­gun­gen und Fra­gen für eigene Überlegungen.

Am 18. Feb­ru­ar 1969 verübten vier Palästi­nenser in Kloten einen Anschlag auf ein El-Al-Flugzeug, was zum Tod des Copi­loten und eines Atten­täters führte. Auf einem Flug­blatt appel­lierten sie an “die Töchter und Söhne des Frei­heit­skämpfers Wil­helm Tell” und fügten hinzu “Wir bit­ten das Schweiz­er­volk und seine Regierung um Verzei­hung für jeden Schaden an Schweiz­er-Eigen­tum, für Unan­nehm­lichkeit­en oder gar für den Ver­lust an Schweiz­er-Men­schen­leben”.
Die über­leben­den Atten­täter wur­den zu hohen Frei­heitsstrafen verurteilt, aber schon ein Jahr später durch eine Geisel­nahme freige­presst und daraufhin in ihrer Heimat als helden­hafte Frei­heit­skämpfer über­schwenglich gefeiert.

Das war für die Schweiz der erste direk­te Kon­takt mit dem Nahost-Dra­ma, das bis heute andauert und dessen Lösung in weit­er Ferne liegt, — und es war eine erste direk­te Kon­fronta­tion mit der Tat­sache, dass “Atten­täter” und “Frei­heit­skämpfer” offen­sichtlich eine Frage der poli­tis­chen Per­spek­tive ist.

War die Beru­fung der vier Atten­täter auf Wil­helm Tell gerecht­fer­tigt oder nicht?

Schau­platzwech­sel: Chica­go, 1. Mai 1886.
90’000 Arbeit­er protestieren gegen Hunger­löhne und 12-stündi­ge Arbeit­stage. Am 3. Mai erschiesst die Polizei sechs Streik­ende.  Am 4. Mai explodiert bei ein­er Fol­gev­er­anstal­tung eine Bombe und tötet einige Polizis­ten. Das führt zu ein­er mas­siv­en Eskala­tion der Gewalt, die unter dem Namen “Hay­mar­ket Riot” in die Geschichte einge­gan­gen ist, und bietet dem Staat Gele­gen­heit, ein paar unbe­queme anar­chis­tis­che Wort­führer der Streiks anzuk­la­gen, ins Gefäng­nis zu steck­en oder hinzurichten.

Dür­fen wir sie als würdi­ge Nach­fol­ger Wil­helm Tells betra­cht­en oder nicht?

Vielle­icht lohnt es sich, für eine weit­ere Erörterung der Frage erneut einen Blick auf Schillers Dra­ma zu werfen.
Kurz bevor Tell den ominösen Schuss auf Gessler tut, hält er einen lan­gen Monolog. Der Satz “Durch diese hohle Gasse muss er kom­men!”  ist im öffentlichen Gedächt­nis hän­genge­blieben, nicht aber die innere Recht­fer­ti­gung, die er sich anschliessend gibt:
“Ich lebte still und harm­los – Das Geschoss / War auf des Waldes Tiere nur gerichtet, / Meine Gedanken waren rein von Mord — / Du hast aus meinem Frieden mich her­aus / Geschreckt, in gärend Drachengift hast du / Die Milch der from­men Denkart mir verwandelt,/ Zum Unge­heuren hast du mich gewöh­nt — / Wer sich des Kindes Haupt zum Ziele set­zte, / Der kann auch tre­f­fen in das Herz des Feinds.

Die armen Kindlein, die unschuldigen, / Das treue Weib muss ich vor dein­er Wut / Beschützen, Land­vogt – Da, als ich den Bogen­strang /  Anzog – als mir die Hand erzit­terte  /Als du mit grausam teufe­lis­ch­er Lust / Mich zwangst, aufs Haupt des Kindes anzule­gen / Als ich ohn­mächtig fle­hend rang vor dir, / Damals gelobt ich mir in meinem Innern / Mit furcht­barm Eid­schwur, den nur Gott gehört,/ Dass meines näch­sten Schuss­es erstes Ziel / Dein Herz sein sollte – Was ich mir gelobt / In jenes Augen­blick­es Höl­len­qualen, / Ist eine heil‘ge Schuld, ich will sie zahlen.”

Als am Schluss des Dra­mas der Kaiser­mörder Johannes Par­ri­ci­da auf Tell trifft und ihm sagt:
“Ihr erschlugt Den Land­vogt, der Euch Bös­es tat – Auch ich / Hab einen Feind erschla­gen, der mir Recht / Ver­sagte – Er war Euer Feind wie mein­er / Ich hab das Land von ihm befre­it.”, reagiert Tell empört: “Darf­st du der Ehrsucht blut’ge Schuld ver­men­gen / Mit der gerecht­en Notwehr eines Vaters?/ Hast du der Kinder liebes Haupt verteidigt?/ Des Herdes Heilig­tum beschützt? Das Schreck­lich­ste, / Das Let­zte von den Deinen abgewehrt?/ – Zum Him­mel heb ich meine reinen Hände, / Ver­fluche dich und deine Tat – Gerächt / Hab ich die heilige Natur, die du / Geschän­det – Nichts teil ich mit dir – Gemordet / Hast du, ich hab mein Teuer­stes verteidigt.”

Rein­hard Strau­mann***, Ex-Kon­rek­tor am Gym­na­si­um München­stein, schreibt in seinem kurzen Essay “SchillersWil­helm Tell”. Die Geschichte ein­er Fehlin­ter­pre­ta­tion” dazu:
Schiller gab Tell als einensich erst unter dem Druck der Tyran­nis zur poli­tis­chen Reife wan­del­nden Men­schen. Er ist ein zurück­ge­zo­gen leben­der Land­mann, der sich aus dem poli­tis­chen Stre­it her­aushal­ten will und nur bere­it ist, sich zu engagieren, wo men­schlich Not am Mann ist. Erst durch den Schock, zum Apfelschuss gezwun­gen zu wer­den, beken­nt er sich zur poli­tis­chen Tat, das heisst: zur sit­tlichen Pflicht. Die per­sön­liche Erfahrung des Ter­rors erhebt ihn zum Ver­ant­wor­tungsträger in der Gemein­schaft.”

Ein poli­tis­ches Atten­tat also als mögliche sit­tliche Pflicht?

Das erin­nert an Mau­rice Bavaud, dessen miss­glück­tes Atten­tat auf Hitler diesen bewog, Schillers Dra­ma in The­ater und Schule sofort abzuset­zen. Oder an “Die Gerecht­en” von Albert Camus**, worin es um das Atten­tat rus­sis­ch­er Sozial­rev­o­lu­tionäre auf den anti­semi­tis­chen, bru­tal­en Gross­fürsten Sergei Romanow geht. Ein erster Ver­such scheit­ert, als Iwan Kal­ja­jew in der Kutsche des Gross­fürsten dessen Frau und junge Nef­fen ent­deckt. Sein Ethos ver­bi­etet ihm, Unschuldige zu töten. Der zweite Ver­such gelingt.

Haben wir hier zwei Beispiele dafür, was Schiller uns mit seinem Dra­ma ans Herz leg­en wollte?

Rein­hards Strau­manns Über­legun­gen sind bedenkenswert und dürften klar machen, warum der Regis­seur ein­er The­at­er­auf­führung, welche die Tat Tells mit dem Leibach­er-Atten­tat im Zuger Par­la­ment gle­ich­set­zte und seinen Sohn als islamistis­chen Selb­st­mor­dat­ten­täter auftreten liess (Tell 15) , von Schillers Inten­tion nichts begrif­f­en hat, — so wenig wie der Comicze­ich­n­er des Beitrags­bilds, der Tell in die muskel­bepack­ten und testos­terongetriebe­nen Pseudo­helden einzurei­hen versucht.

Zu Beginn dieser geschichtlichen Exkur­sio­nen zum Tell-Mythos stellte ich die Arbeit­shy­pothese auf, dass der Tell-Arche­typ immer dann reak­tiviert wird und ins Bewusst­sein tritt, wenn es um Kämpfe für Frei­heit und soziale Gerechtigkeit geht. Die geneigte Leserin und der geneigte Leser möge nach unserem Rundgang durch die Jahrhun­derte sel­ber entschei­den, ob sie stand­hält oder nicht.

In der let­zten Episode werde ich mich der poli­tis­chen Ver­wen­dung unseres Helden in der Schweiz in den let­zten Jahrzehn­ten bis heute zuwen­den (die kom­merzielle lasse ich mal aussen vor).

** “Die Gerecht­en” von Albert Camus wurde 1950 von Radio Beromün­ster (lang ist’s her …) als ein­drück­liche Hör­spielfas­sung gesendet, die mir im Deutsch-/Geschicht­sun­ter­richt jew­eils gute Dien­ste leistete:
Camus hat in seinem Stück «Die Gerecht­en» den Gewis­senskon­flikt der eige­nen Résis­tance-Tätigkeit ab 1935 in Alge­rien auf diese Episode der Rus­sis­chen Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhun­derts über­tra­gen. Am 14. Dezem­ber 1949 in Paris uraufge­führt, sendete das Schweiz­er Radio und Fernse­hen seine erste Hör­spielin­sze­nierung des Werkes bere­its am 28. Sep­tem­ber 1950, zwei Wochen nach der deutschsprachi­gen Erstauf­führung am Schaus­piel­haus Zürich.

*** Rein­hard Straumann’s inter­es­san­ter poli­tis­ch­er Blog lohnt einen Besuch!
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