von links nach rechts: Tell-Denkmal in Montevideo/Uruguay; “Wilhelm-Tell”-Schule in Ecuador; Südkorea feiert 2019 seine Unabhängigkeit von Japan mit Rossinis “Guillaume Tell”; Gedenktafel an José Rizal, der Wilhelm Tell nach Manila brachte.
Wenn wir Wilhelm Tell auf seinen weiteren Reisen auf unserem schönen blauen Planeten begleiten, zeigt sich erneut die archetypische Kraft des Mythos, — auch wenn er schon so oft in die Mottenkiste der Geschichte gesteckt wurde.
Hier einfach ein paar kaleidoskopartige Bruchstücke:
- In Südamerika ist seine Präsenz in der Befreiungsgeschichte von der spanischen und portugiesischen Herrschaft schwerer nachzuweisen, weil der Mythos weder in Spanien noch in Portugal wirklich lebendig war. Das Tell-Denkmal in Uruguay und die Schule in Ecuador verdanken ihre Existenz der Initiative von Schweizern. Doch stösst man z.B. in Chile durchaus auf “Guillermo Tell”-Strassennamen oder findet Politiker aus dem 19. Jahrhundert mit dem entsprechenden Vornamen, z.B. beim Venezuelaner Guillermo Tell Valegas oder dessen Neffe Guillermo Tell Villegas Pulido.
- Ein besonders schönes Beispiel für die Lebendigkeit des Mythos finden wir auf Kuba: Es ist bekannt, dass sich Fidel Castro in seinen Reden oft und gern auf Wilhelm Tell berief. Die Geschichte Tells gehört laut Hinweis einer Leserin dieser Saga auch heute noch zum offiziellen schulischen Lesekanon.
Es ist aber auch bekannt, dass Castro anarchistische Revolutionäre in Kuba sofort in Gefängnissen verschwinden liess, wie der Basler Anarchist Heiner Köchlin in seiner Zeitschrift “Akratie” anzuprangern nicht müde wurde.
Vielleicht deshalb ist “Guillermo Tell” des Liedermachers Carlos Varela zu einer eigentlichen Hymne der kubanischen Jugend geworden: Tells Sohn ist in seinem Lied müde geworden, mit dem Apfel auf dem Kopf Zielscheibe zu spielen:
“Guillermo Tell, dein Sohn ist groß geworden
und will nun selbst den Pfeil abschießen.
Jetzt ist es an ihm, seinen Mut zu beweisen
und deinen Bogen in die Hand zu nehmen.
Guillermo Tell verstand den Eifer nicht,
denn wer will sich schon der Gefahr eines Pfeils aussetzen.
Guillermo Tell lehnte es ab,
sich den Apfel auf den Kopf zu legen,
und sagte laut:
Ich trau’ dir das schon zu,
doch was geschieht, wenn der Pfeil daneben geht?”
Darüber lässt sich ganz trefflich philosophieren 😉 …
- Aber auch im Fernen Osten fasste unser Tell Fuss:
Als Japan sich im 19. Jahrhundert auf Druck der westlichen Grossmächte langsam öffnete, erschien als erstes Werk der deutschen Literatur 1880 die Anfangsszene von Schillers Wilhelm Tell in einer japanischen Nacherzählung.
2017 wurde in der 2011 von der Nuklearkatastrophe schwer getroffenen Stadt Fukushima in Anwesenheit des Schweizer Botschafters feierlich ein “Tell”-Relief enthüllt. Botschafter Paroz: “Like William Tell, the brave inhabitants of Fukushima and of the Tohoku region as a whole have shown their resilience to a natural catastrophe and their capability to survive and to fight for a future of freedom and prosperity. I consider the unveiling of the William Tell relief today as a tribute to their courage and their determination. I admire you and wish you every success in your admirable efforts.”
Wer sich einen Ausschnitt aus der im Beitragsbild erwähnten Aufführung von Rossinis Oper in Seoul anschauen möchte, hat hier die Möglichkeit. Dass letztes Jahr ausgerechnet sein “Guillaume Tell” ausgewählt wurde, um die Unabhängigkeit Koreas von Japan zu feiern, dürfte kein Zufall gewesen sein.
1886 erschien Schillers Wilhelm Tell auf Tagalog, einer der ursprünglichen Sprachen auf den Philippinen. Übersetzt wurde er vom Nationalhelden der Philippinen, José Rizal. Rizal war ein hochintelligenter und weitgereister Schriftsteller, Arzt und Freimaurer, der sich für den Kampf gegen die spanische Kolonialmacht und den Machtmissbrauch der römisch-katholischen Kirche einsetzte. Er bezahlte seinen Einsatz mit dem Leben: Am 30. Dezember 1896 wurde er in Manila hingerichtet. Ein Blick in seine faszinierende Biographie lohnt sich.
Richard Kissling, der für das inzwischen weltweit bekannte Telldenkmal in Altdorf verantwortlich zeichnet, schuf auch das Denkmal für Rizal in Malina, das folgende Inschrift trägt: „I want to show to those who deprive people the right to love of country, that we indeed know how to sacrifice ourselves for our duties and convictions; death does not matter if one dies for those one loves – for his country and for others dear to him.“
Und die Schweizer Autorin Annette Hug hat sich in ihrem neuen Roman “Wilhelm Tell in Manila” mit der Frage beschäftigt, was Rizal dazu motivierte, Schillers Theaterstück auf Tagalog zu übersetzen und welche Schwierigkeiten bei der Übersetzung er angesichts der grossen kulturellen Unterschiede zwischen Westeuropa und den Philippinen überwinden musste. Die WOZ hat dazu ein spannendes Interview mit der Autorin gebracht.
Mit Richard Kissling und Annette Hug sind wir wieder in der Schweiz angekommen. Über die weitere Wirkungsgeschichte Tells im 19. Jahrhundert gäbe es noch einiges zu erzählen, z.B. darüber, wie Gottfried Keller Tell gesehen hat, oder die kuriose Geschichte über den bayrischen “Märchenkönig” Ludwig II., der 1885 den Dampfer “Waldstätte” mietete und in mondhellen Nächten die Tell-Schauplätze aufsuchte. Auf dem Rütli, das übrigens 1859 anlässlich des 100. Geburtstags Friedrich Schillers in den Besitz der Eidgenossenschaft übergegangen war, liess er von seinem Hofschauspieler Kainz Verse aus Schillers Drama rezitieren.
Für die Besichtigung der “Original”-Hohle Gasse hätte er allerdings noch etwas warten müssen: Sie war bis 1937 eine normale Verbindungsstrasse von Küsnacht nach Immensee gewesen und wurde mit Hilfe einer Spendensammlung der Schweizer Schuljugend mit Felsblöcken künstlich verengt, — angeregt durch eine Bühnenanweisung Schillers 🙂
In der zweitletzten Folge wollen wir der brisanten Frage “Wilhelm Tell — ein Terrorist?” nachgehen.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson
Ruth Recher
Mai 9, 2020
In Nueva Helvecia Uruguay gibt es eine Strasse Guillermo Tell…Unser Wilhelm Tell wurde von Auswanderern überall hin mitgenommen.
Franz Büchler
Mai 9, 2020
Im Birsfälderpünggtli gibt es noch ein Bild:
unser Aussenminister vor dem Telldenkmal in Montevideo!
http://www.birsfaelder.li/wp/politik/__trashed‑5/