Radierung mit Szenen aus der Befreiungs­geschichte. Mitte 18. Jhdt. / Schweiz­erisches Landesmuseum

Der Mor­garten­brief

Wir wollen den Begriff des “Mythos” zuerst in sein­er neg­a­tiv­en Aus­prä­gung — also als “unwahr”- am Beispiel des Grün­dungs­da­tums der Schweiz­erischen Eidgenossen­schaft unter­suchen, — bekan­ntlich der 1. August 1291.
Lei­der nicht so ein­fach: Wer obige Illus­tra­tion genauer anschaut, kann ganz unten entz­if­fern: “Der erste Bund von Gott erwehlt Als Taussen drey­hun­dert acht jahr zehlt”. 1308 also?
Lei­der nicht so ein­fach: Bis ins 19. Jhdt. datierte man den Rütlis­chwur näm­lich auf den 8. Sep­tem­ber 1307. Stimmt also dieses Datum?
Lei­der nicht so ein­fach: Als Alter­na­tiv­da­tum für den ersten Bund wurde auch der 9. Dezem­ber 1315 gehan­delt, als der Mor­garten­brief besiegelt wurde.

Die inter­es­sante Geschichte, wann und warum Ende des 19. Jahrhun­derts schliesslich das heute gültige “offizielle” Datum aus­gewählt wurde, kann hier im Detail nachge­le­sen werden.

Klar gibt es einen Bun­des­brief aus dem Jahr 1291. Er liegt ja immer­hin im Bun­des­brief­mu­se­um in Schwyz. Das Prob­lem ist nur, dass er über Jahrhun­derte hin­weg völ­lig vergessen in einem Archiv dahindäm­merte, im 18. Jhdt. zwar wieder ent­deckt, aber erst 1891 aus poli­tis­chen Grün­den in den Rang eines Grün­dungs­doku­ments erhoben wurde. Dazu kommt, dass es Hin­weise darauf gibt, dass der Brief möglicher­weise erst später ent­stand und rück­datiert wurde.

Roger Sablonier

Doch damit nicht genug: Der His­torik­er Roger Sablonier veröf­fentlichte 2013 sein  Buch mit dem pro­vokan­ten Titel “Grün­dungszeit ohne Eidgenossen”, wobei “Grün­dungszeit” iro­nisch zu ver­ste­hen ist.
Dazu Kurt Mess­mer: “Der Begriff “Bun­des­brief” ver­leit­et zur Vorstel­lung, es han­dle sich um ein einzi­gar­tiges, unver­gle­ich­lich­es Doku­ment. Es gab jedoch eine “Flut von ver­gle­ich­baren Verträ­gen” … Mit der geläu­fi­gen Beze­ich­nung “Land­friedens­bünd­nis” sind diese Verträge wort­ge­treu zu erk­lären als Bünd­nisse, um den Frieden im Land und die öffentliche Ord­nung zu sichern.
Räum­lich ver­ban­den solche Abmachun­gen unter­schiedliche Part­ner vom deutschen Süd­west­en bis Savoyen, von der Ostschweiz über das Bodenseege­bi­et bis zu den Hab­s­burg­ern in Öster­re­ich. Die früh­esten Städte­bünde datieren lange vor 1291, so etwa jen­er zwis­chen Bern, Freiburg und Murten, der bere­its 1218 geschlossen wurde. Eine Zeit poli­tis­ch­er Wirren wie jene nach dem Tod König Rudolfs von Hab­s­burg im Jahr 1291 rief ger­adezu nach ver­traglichen Absicherun­gen. Am 9. August 1291 schloss Bern ein Bünd­nis mit dem mächti­gen Savoyen …”
(aus Kurt Mess­mer, Die Kun­st des Möglichen, 2018)

Wir müssen uns also eingeste­hen: Die Bun­des­grün­dung von 1291 — als ein Ende des 19. Jhtds poli­tisch gewoll­ter Mythos — ist mit der fak­tis­chen Geschichte nicht zu vere­in­baren. Eben — “nur” ein Mythos … Die Tat­sache, dass der 1. August erst 1994 zu einem arbeits­freien Feiertag wurde, zeigt übri­gens den gerin­gen emo­tionalen Stel­len­wert dieses Datums.

Ganz anders bei unserem Wil­helm Tell! Er taucht — mit dem Rütlis­chwur und dem Bur­gen­bruch — zum ersten Mal im sog. Weis­sen Buch von Sar­nen auf, ein­er Samm­lung von Urkun­den, Doku­menten und ein­er Chronik, zusam­mengestellt und ver­fasst vom Obwald­ner Land­schreiber Hans Schriber zwis­chen 1470 und 1472. Das ist insofern inter­es­sant, als sich im gle­ichen Zeitraum bei den lose miteinan­der ver­bün­de­ten Land- und Stad­torten — es gab keinen gemein­samen Bun­des­brief! — eben­falls zum ersten Mal ein “Wir-Gefühl” entwick­elt. Das wird wun­der­schön sicht­bar in der Karte des Ein­siedler Dekans Albrecht von Bon­stet­ten von 1479, in der die Rigi als Heiliger Berg und Zen­trum der 13 Orte erscheint.

Doch im Gegen­satz zum Bun­des­brief von 1291 ver­schwand der “Thall” — der Wil­helm kam erst später dazu 😉 — nicht in irgen­deinem staubi­gen Archiv, son­dern machte sofort steile Kar­riere — zuerst inner­halb der Eidgenossen­schaft, dann, wie wir noch sehen wer­den, aus­ge­hend von Schiller sog­ar weltweit. Wie ist das zu erklären?

Jean Rudolf von Salis

Jean Rudolf von Salis, His­torik­er und im zweit­en Weltkrieg berühmter Chro­nist bei Radio Beromün­ster, schildert in seinem Auf­satz “Ursprung, Gestalt und Wirkung des schweiz­erischen Mythos von Tell”: ” …Wenn zur Zeit der äusseren Bedro­hung der Schweiz durch Hitler die Men­schen im The­ater sich von ihren Sitzen erhoben und in tiefer Ergrif­f­en­heit den Rütlis­chwur mit­sprachen, iden­ti­fizierten sie sich mit dem Geschehen auf der Bühne .… Dabei ist es, was diese Wirkung bet­rifft, völ­lig gle­ichgültig, ob sie glaubten, die Dinge hät­ten sich damals so zuge­tra­gen wie im Dra­ma (von Schiller). Wir waren ergrif­f­en, aber glaubten nicht an die His­tor­iz­ität der Hand­lung auf der Bühne. Was ergriff, war ihr Sinn, die Kraft des Wortes.” Und er fährt weit­er: “Nun lautet aber die Frage, ob diese Inten­sität nicht ger­ade davon her­rührt, dass Tell eine sagen­hafte, eine mythis­che, eine arche­typ­is­che Fig­ur ist.”

Carl Gus­tav Jung

Damit ist — neben Mythos — ein weit­eres Zauber­wort gefall­en: Archetypus!
C.G. Jung beze­ich­nete damit “die dem kollek­tiv­en Unbe­wussten zuge­hörig ver­muteten Grund­struk­turen men­schlich­er Vorstel­lungs- und Hand­lungsmuster …  Arche­typen sind definiert als psy­chis­che (auch psy­choph­ysis­che) Struk­tur­dom­i­nan­ten, die als unbe­wusste Wirk­fak­toren das men­schliche Ver­hal­ten und das Bewusst­sein bee­in­flussen.”. (Wikipedia)

Ein konkretes Beispiel: Der Neo-Jun­gian­er Robert Moore zeigte z.B. auf, dass in der Psy­che des Mannes vier dominierende Arche­typen zu find­en sind, welche er “king, war­rior, magi­cian und lover” nan­nte und die sich auf gesunde oder krankhafte Weise entwick­eln und man­i­festieren können.

Joseph Camp­bell

Der grosse Mythen-Erforsch­er Joseph Camp­bell sein­er­seits kon­nte nach­weisen, dass das Bild des mythis­chen Helden ein im kollek­tiv­en Unbe­wussten ver­ankert­er und abso­lut kul­turüber­greifend­er Arche­typ ist, der ganz bes­timmten Entwick­lungss­chrit­ten fol­gt. Er fasste seine Erken­nt­nisse im Best­seller “A hero with a thou­sand faces” (auf deutsch “Der Heros in tausend Gestal­ten”) zusam­men.

Wir wollen in den kom­menden Fol­gen der Arbeit­shy­pothese nachge­hen, dass der Tell-Arche­typ immer dann reak­tiviert wird und ins Bewusst­sein tritt, wenn es um Kämpfe für Frei­heit und soziale Gerechtigkeit geht. Span­nend ist auch die Frage, warum Tell in der Eidgenossen­schaft ger­ade im 15. Jahrhun­dert — vielle­icht aus­ge­hend von ein­er schon vorher existieren­den mündlichen Tra­di­tion — zum  öffentlichen Leben erwachte. Ihr wollen wir die näch­ste Folge wid­men.

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