Bevor wir uns dem weit­eren Wirken Wil­helm Tells zuwen­den, fol­gt hier ein kleines Inter­mez­zo in Form ein­er Gegenüber­stel­lung Mikhail Bakunins und Ignaz Trox­lers. Bei­de haben sich — allerd­ings auf unter­schiedliche Weise — auf Tell bezogen:
Bakunin, der Beruf­s­rev­o­lu­tionär, warf der Schweiz anlässlich der Ausweisung Giuseppe Mazz­i­nis vor, sich gegenüber reak­tionären Grossstaat­en allzu willfährig zu ver­hal­ten und so den eige­nen Frei­heit­shelden Wil­helm Tell zu verraten.
Trox­ler sein­er­seits betra­chtete den Tell-Mythos als das unab­d­ing­bare Herzstück ein­er ur-frei­heitlichen Tra­di­tion, aus der sich die Eidgenossen­schaft Schritt um Schritt entwick­elte, bis sie langsam degener­ierte und schliesslich in einem verknöcherten Ancien Régime erstar­rte. Seine berühmte Rede in der Hel­vetis­chen Gesellschaft 1822 war ein flam­mender Aufruf, wieder am Ursprung — wie er ihn vor seinem geisti­gen Auge sah — anzuknüpfen.

Wenn man also den Ver­such wagen will, die Gestal­ten von Bakunin und Trox­ler nebeneinan­der zu stellen, sprin­gen einem zuerst die Gegen­sätze ins Auge:
— Hier Bakunin, der heimat­lose von Land zu Land irrende rus­sis­che Rev­o­lu­tionär, erk­lärter Athe­ist und Tod­feind jeglich­er organ­isiert­er Reli­gion, und bere­it, wenn nötig auch einen poli­tis­chen Mord in Kauf zu nehmen, um das Ziel ein­er wahrhaft freien und sozial gerecht­en Gesellschaft zu erreichen.
— Dort Trox­ler, der zutief­st heimatver­bun­dene Philosoph und Poli­tik­er, der im Chris­ten­tum einen entschei­den­den Pfeil­er für eine freie und har­monis­che Gesellschaft sah und jeglich­er poli­tis­ch­er und blutiger Gewalt abhold war.

Doch ein zweit­er Blick lässt hin­ter den Gegen­sätzen auch eine ganze Rei­he von Gemein­samkeit­en erkennen:

Ricar­da Huch

- Bei­de waren in ihrer Art zutief­st religiöse Men­schen. Bakunin lehnte zwar jegliche äussere dog­ma­tis­che Reli­gion ab, doch in seinem Athe­is­mus steck­te mehr Gottes­furcht, als es bei ober­fläch­lich­er Betra­ch­tung scheinen mag.
Ricar­da Huch hat dies in ihrer Biogra­phie Bakunin und die Anar­chie wun­der­voll auf den Punkt gebracht:
Wer wüßte nicht, daß Gott die Liebe ist? Der von der siegre­ichen Kirche auf den Thron geset­zte Herrsch­er verän­derte seine Züge voll­ständig, aber allmäh­lich und so im Zusam­men­hange mit den Men­schen, daß sie es größ­ten­teils gar nicht bemerk­ten. Aus dem großen Jeho­va, dem All­vater, in dessen Hän­den Segen und Fluch liegt, aus dem ewig aus uner­schöpflich­er Fülle Schaf­fend­en und Zer­stören­den wurde ein Porti­er im Hotel Europa, der die Auf­gabe hat­te, für Ord­nung zu sor­gen in dem Sinn, daß die zahlungs­fähi­gen Gäste es möglichst bequem hat­ten. Es war ein Porti­er mit Embon­point und reich­er Livree und so majestätisch, daß man sich ihm ohne ein reich­lich­es Trinkgeld gar nicht zu näh­ern wagte; seine Wit­terung für die gesellschaftliche Stel­lung eines jeden war untrüglich, vor sein­er unnah­baren Miene, wenn der Habenichts seinen Nacht­sack here­in­trug, kam auch der Keck­ste zum Gefühl sein­er Bet­tel­haftigkeit. Zu einem solchen Porti­er war allmäh­lich Gott gewor­den. Dafür, daß er gut gefüt­tert wurde, mußte er das Beste­hende erhal­ten. Mit ganzen Strahlen­bün­deln von Heiligkeit wurde das Beste­hende über­schüt­tet; es gab kein größeres Ver­brechen, keine größere Dummheit, keinen schauer­licheren Irrwahn, als das Beste­hende erschüt­tern zu wollen, …

Diese Umwand­lung des Her­rn der Heer­scharen in einen gewöhn­lichen Porti­er erk­lärt viele Mißver­ständ­nisse. Man begreift, daß viele ger­ade ide­al gesin­nte Men­schen sich lieber Athe­is­ten als Anbeter dieses Gottes nan­nten. Men­schen mit jen­em Kinderblick, der erken­nt, daß des Kaisers neue Klei­der gar nicht vorhan­den sind und das Opfer sein­er Men­schen­furcht im Hemde ein­herge­ht, bemerk­ten, daß die Majestät am Schal­ter unmöglich Gott sein könne, der das Licht leucht­en ließ und die Erde vom Him­mel schied, empörten sich gegen ihn und sagten ihm laut ins Gesicht, sie seien ihm keine Achtung schuldig und kön­nten ihn sog­ar hin­auswer­fen. Je mehr die Anbe­tung des lebendi­gen Gottes sie erfüllte, durch dessen Reich die Hotel­be­wohn­er hin­durchgin­gen, ohne ihn zu ken­nen, ohne ihn zu grüßen, ohne sich nach ihm zu sehnen, desto wider­wär­tiger war ihnen die Majestät an der Hoteltür, und da dieser nun ein­mal auf den Namen Gott hörte, wurde ihnen der Name ver­haßt, und sie ver­mieden ihn auszus­prechen, ja sie merzten ihn ger­adezu aus, um reine Bahn zu machen.”

Für Ignaz Trox­ler sein­er­seits war “die Anbe­tung des lebendi­gen Gottes” eben­falls von zen­traler Wichtigkeit — davon zeugt sein tiefes Inter­esse an der deutschen Mys­tik -, aber sie war für ihn auch im kirch­lichen Rah­men möglich und für die meis­ten sein­er Zeitgenossen nötig. Zwar blieb er bis zu seinem Tode der katholis­chen Kirche ver­bun­den, aber er wandte sich scharf gegen jegliche geistig-seel­is­che Bevor­mundung, moralis­che Duck­mäuserei und kon­fes­sionelle Enge.

- Bei­de waren zutief­st von der Überzeu­gung durch­drun­gen, dass eine freie Gesellschaft nur auf der Grund­lage eines freien, in seinen eige­nen seel­is­chen Tiefen ver­ankerten autonomen Indi­vidu­ums möglich wird.
Bakunin kämpfte für eine Gemein­schaft von Men­schen, die auf genossen­schaftlichen Prinzip­i­en auf­baute. Staat und Zen­tral­is­mus, Autorität und Macht waren für ihn unvere­in­bar mit der men­schlichen Freiheit.
Jede Beherrschung der Massen von oben nach unten »durch eine intellek­tuelle und eben dadurch priv­i­legierte Min­der­heit, die ange­blich die wahren Inter­essen des Volkes bess­er erken­nt als das Volk selb­st« und zudem ver­sucht, ihrer Macht ewige Dauer zu ver­schaf­fen, »indem sie die ihr anver­traute Gesellschaft immer düm­mer und fol­glich ihrer Regierung und Leitung immer bedürftiger macht«, lehnt Bakunin ab.
Lösung: Eine föderale Organ­i­sa­tion. Sie ver­hin­dere, dass sich Macht in ein­er zen­tralen Gewalt, die Sozial­is­mus und Frei­heit unmöglich macht, konzen­tri­ert. Unter Föder­al­is­mus ver­ste­ht Bakunin den Auf­bau der Gesellschaft von unten nach oben, das heißt, von der Basis zur Spitze. Diese Föder­a­tion solle auf freier Assozi­a­tion der Indi­viduen, Pro­duk­tion­s­ge­mein­schaften und Kom­munen basieren und zur größt­möglichen Unab­hängigkeit und Selb­st­bes­tim­mung führen, zu ein­er Ord­nung, »die keine andere Grund­lage hat als die Inter­essen, Bedürfnisse und die natür­liche Affinität der Bevölkerung«. (aus einem Vor­wort zu Bakunins Schrift “Gott und der Staat”)

James Guil­laume

Pjotr Kropotkin

Die Überzeu­gung Bakunins stand in diame­tralem Gegen­satz zu den The­sen von Karl Marx, der von ein­er notwendi­gen straf­fen Führung der Gesellschaft durch eine kleine rev­o­lu­tionäre Elite von oben nach unten aus­ging. Dieser Kon­flikt führte 1872 zur Grün­dung der Anti­au­toritären Inter­na­tionale in St. Imi­er, in der neben dem Russen Pjotr Kropotkin der Schweiz­er James Guil­laume eine wichtige Rolle spie­len soll­ten. (Kropotkin war übri­gens der erste, der den Evo­lu­tion­sid­een Dar­wins mit dem “Kampf ums Dasein” das Konzept der gegen­seit­i­gen Hil­fe in der Men­sch- und Tier­welt gegenüberstellte)

Der Ansatz von Karl Marx ist, wie wir inzwis­chen wis­sen, grandios gescheit­ert und hat neben ein paar Mil­lio­nen Toten ein ide­ol­o­gis­ches Trüm­mer­feld hin­ter­lassen. Der Ansatz von Bakunin bleibt bis heute eine Utopie. Ihr kommt in ein­er glob­al­isierten Welt vielle­icht noch am ehesten die Idee eines Europa der Regio­nen nahe.

Für Trox­ler spiel­ten die Klas­sen­ge­gen­sätze noch keine zen­trale Rolle — die mas­sive Indus­tri­al­isierung und die damit ein­herge­hende Entwick­lung des Pro­le­tari­ats lagen noch in der Zukun­ft — aber er war ganz wie Bakunin felsen­fest überzeugt, dass jegliche poli­tis­che Gewalt allein aus dem Volk auszuge­hen hat­te. Daher sein uner­müdlich­er Kampf gegen poli­tis­che Vor­rechte, wie sie in der Eidgenossen­schaft zuerst von patrizis­ch­er und schliesslich sog­ar von lib­eraler Seite in Anspruch genom­men wurden.
Zwar durfte er schliesslich mit Genug­tu­ung die Ver­wirk­lichung sein­er lebenslan­gen Idee des Bun­desstaates erleben, aber seine Vision ein­er run­dum seel­isch-geistig erneuerten men­schlichen Gemein­schaft blieb — genau­so wie für Bakunin — ein uner­füll­ter Traum …

In der näch­sten Folge wer­den wir uns wieder Wil­helm Tell und seinen weit­eren Aben­teuern zuwenden.

An anderen Serien interessiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hein­er Koech­lin / Simone Weil / Gus­tav Meyrink / Nar­rengeschicht­en / Bede Grif­fiths / Graf Cagliostro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­woche und Don­ald Trump / Die Welt­woche und der Kli­mawan­del / Die Welt­woche und der liebe Gott /Lebendi­ge Birs / Aus mein­er Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reich­sidee /Voge­sen / Aus mein­er Bücherk­iste / Ralph Wal­do Emerson

 

 

 

 

 

Mit dem Hafen spielen
Wochenrückblick

13 Kommentare

Kommentiere

max feurer Antworten abbrechen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.