… so wenigstens sah es vor ein paar Jahren der Kolumnist einer Zeitung aus dem “Grossen Kanton”. Oder war er vielleicht doch eher ein Schweizer mit dänischen Wurzeln, der zwischendurch die französische Staatsbürgerschaft annahm !? Nun, zum Glück müssen wir uns bei archetypischen Figuren den Kopf in Sachen Staatsbürgerschaft nicht allzusehr zerbrechen 😉 …
Fakt ist allerdings, dass unser Held ohne die Schützenhilfe Friedrich Schillers kaum die Popularität erreicht hätte, welche heute die jährlichen sommerlichen Touristenattraktionen in Interlaken und Altdorf ermöglicht. Es lohnt sich deshalb, der spannenden Frage nachzugehen, wie ein deutscher Arzt, Historiker und Dichter überhaupt dazukam, ein Drama über unseren Helden zu verfassen.
Dazu müssen wir — nachdem wir Tell in der Helvetik begleitet haben — ein Jahr zurückgehen und uns nach Stäfa am Zürichsee begeben. Dort hatte sich im Herbst des Jahres 1797 im Gasthaus “Alte Krone” ein anderer Poet einquartiert, der zugleich geadelter tatkräftiger Politiker und Naturforscher war, — nämlich kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe, der deutsche Dichterfürst.
Der Zufall wollte es, dass er sich in einer Gemeinde befand, die zwei Jahre zuvor den ersten Freiheitsbaum im Ancien Régime aufgestellt hatte, um gegenüber der Stadt Zürich auf ihre alten Freiheitsrechte zu pochen. Es bekam Stäfa schlecht: Die Gnädigen Herren von Zürich verhängten einen Bann über die Gemeinde, besetzten sie militärisch und verhafteten und folterten die politischen Anführer, weil sie die “kostbaren Wohlthaten .. welche die huldreiche Obrigkeit, aus herzlicher Wohlmeinung, Ihrem ganzen Land von Zeit zu Zeit” angedeihen liess, nicht wertschätzte …

Tellskizze im Chronicon Helveticum
Es war schon Goethes dritte Schweizer Reise. Von Stäfa aus unternahm er seine Erkundung der Urschweiz. Und hier stiess er auch auf das “Chronicon Helveticum” von Aegidius Tschudi — und damit auf die Geschichte unseres Helden. Seinem Freund Schiller schrieb er darauf: “Ich bin fast überzeugt, dass die Fabel vom Tell sich werde episch behandeln lassen”. In den darauffolgenden Monaten begann er tatsächlich mit einem Entwurf zu den ersten Gesängen. Sein Tell sollte ein Naturmensch sein, ein kräftiger Lastenträger, der Tierfelle und sonstige Waren durch das Gebirge schleppte und sich um politische Angelegenheiten nicht weiter kümmerte.

Goethe und Schiller-Denkmal
Aber dann stockte die Arbeit, andere Projekte schoben sich vor. Doch Goethe und sein Freund Schiller müssen immer wieder über die Tell-Sage gesprochen haben, denn 1801 begann sich in Deutschland das Gerücht zu verbreiten, dass Schiller an einem Stück über den Schweizer Nationalhelden schreibe.
Schiller arbeitete immer noch an seiner monumentalen “Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande” und zeigte zuerst wenig Begeisterung, sich auf einen Helden der Berge einzulassen, dem er zwar “erstaunliche Kraft, aber nicht eigentlich menschliche Grösse” zubilligte. Doch das Gerücht hielt sich so hartnäckig, dass er nach einigen Monaten an seinen Verleger schrieb, er habe schon “so oft das falsche Gerücht hören müssen, als ob ich einen Wilhelm Tell bearbeite, daß ich endlich auf diesen Gegenstand aufmerksam worden bin, und das Chronicum Helveticum von Tschudi studierte. Dies hat mich so sehr angezogen, daß ich nun in allem Ernst einen Wilhelm Tell zu bearbeiten gedenke, und das soll ein Schauspiel werden, womit wir Ehre einlegen wollen.”
Als Goethe sich bereit erklärte, seinem Freund das Recht zur Bearbeitung der Tellgeschichte abzutreten, begann Schiller im Februar 1802 mit den Vorarbeiten. Schon im März schrieb er Goethe, der Tell ziehe ihn “mit einer Kraft und Innigkeit” an, wie es ihm schon lange nicht mehr begegnet sei. “Im Tell leb’ und web’ ich jetzt”, hielt er einmal während der endgültigen Niederschrift im Herbst 1803 fest, und er erwog sogar eine Reise in die Schweiz, um die Originalschauplätze zu besuchen. Doch seine schwindende Gesundheit — er starb 1805 — verhinderte das Vorhaben.

Karte aus der Entstehungszeit von Schillers Tell
Dafür deckte er sich mit allen verfügbaren Dokumenten und Quellen ein — Bücher, Stiche, Briefe, kartographisches Material. Goethe schrieb später über Schillers Arbeitsweise: “Er fing damit an, alle Wände seines Zimmers mit soviel Spezialkarten der Schweiz zu bekleben, als er auftreiben konnte. Nun las er Schweizer Reisebeschreibungen, bis er mit Weg und Stegen des Schauplatzes des Schweizer Aufstandes auf das genauste bekannt war. Dabei studierte er die Geschichte der Schweiz (v.a. Johannes Müller), und nachdem er alles Material zusammengebracht hatte, setzte er sich über die Arbeit und — hier erhob sich Goethe und schlug mit geballter Faust auf den Tisch — buchstäblich genommen stand er nicht eher vom Platze auf, bis der Tell fertig war. Überfiel ihn die Müdigkeit, so legte er den Kopf auf den Arm und schlief. Sobald er wieder erwachte, liess er sich — nicht wie ihm fälschlich nachgesagt worden, Champagner — sondern starken schwarzen Kaffee bringen, um sich munter zu erhalten. So wurde der Tell in sechs Wochen fertig, er ist aber auch wie aus einem Guss.”
So konnte der Schriftsteller Urs Widmer in seinem NZZ-Artikel “Die Topographie des “Wilhelm Tell” nach einer Wanderung auf den Spuren von Schillers Tell erstaunt festhalten: “Er machte keine Fehler. Keine Angaben, die sich widersprechen. Die Wege wären abschreitbar.”
Am 19. Februar schickte Schiller sein vollendetes Manuskript an Goethe, der antwortete: “Das Werk ist vortrefflich geraten und hat mir einen schönen Abend verschafft”. Goethe, der am fürstlichen Hof auch als Theaterintendant fungierte, begann sogleich mit den Proben, sodass die erste Aufführung im Hoftheater Weimar schon am 17. März stattfinden konnte, — mit grossem Erfolg, denn ein Beteiligter hielt anschliessend fest: “Der Apfel schmeckt uns nicht schlecht, und die Kasse verspricht sich einen guten Handel” :-).
Damit können wir uns nun dem Theaterstück und seiner Erfolgsgeschichte zuwenden, und beginnen damit wie gewohnt am kommenden Samstag
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