Wie in der letzten Episode geschildert, war die Teilnahme der Eidgenossenschaft am Wiener Kongress 1814 eine ziemlich blamable Vorstellung. Allein schon das offizielle, von der Tagsatzung bestimmte Triumvirat war unter sich zerstritten. Die Folge davon war, dass einige Kongressteilnehmer sogar anfingen, sich Gedanken zu machen, ob man ein solch zerstrittenes Gebilde überhaupt als selbstständiges völkerrechtliches Subjekt anerkennen könne und wolle, oder ob es nicht vielleicht sinnvoller wäre, die Schweiz einem Nachbarstaat anzugliedern.
Wir erinnern uns, dass nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Imperiums die reaktionären Kräfte, allen voran die “aristokratischen” Orte Bern, Freiburg, Solothurn und Luzern, Morgenluft witterten und alles daran setzten, die alten Herrschafts- und Untertanenverhältnisse wiederherzustellen. In Luzern war es im Februar 1814 zu einem restaurativen Putsch gekommen.
Hier kommt nun wieder ein alter Bekannter im birsfaelder.li, Ignaz Paul Vital Troxler, ins Spiel, den wir als unermüdlichen Verfechter der Volksrechte kennengelernt haben. Er verfasste nämlich sofort die Flugschrift Die Freiheit und Rechtsamen der Kantonsbürgerschaft Luzerns nach dem Laufe der Zeiten, worin er sich für die Gleichberechtigung aller Bürger einsetzte. Nicht nur das: Er versuchte zusammen mit einem Freund die Luzerner Regierung mit einer Volkspetition unter Druck zu setzen, ungeachtet der Tatsache, dass diese inzwischen im Kanton ein Netz von Polizeispitzeln auf die Beine gestellt hatte. Die Bittschrift wurde prompt konfisziert und Troxler zusammen mit anderen verdächtigen Bürgern in Haft genommen.
Dass die Zeiten seit dem Ancien Régime immerhin doch etwas geändert hatten, zeigte sich darin, dass es anlässlich des Gefangenentransports nach Sursee zu einem grossen Volksauflauf kam. Doch Troxler wanderte — wieder einmal — ins Luzerner Gefängnis, wo er seine Meinung über den neuen aristokratischen Rat der Hundert (Kleiner Rat 36, Grosser Rat 64 Räte) in Form eines Kommentars an die Wand kritzelte:
„36 Löcher aus denen man spricht 64 dito, auf denen man sitzt machen Rat und Unrat = 100″.
Mangels eines handfesten Beweises wurde Troxler schliesslich nach wochenlanger Isolationshaft unter Aufbürdung der Gerichtskosten freigelassen. Wie weiter? — Er hatte vielleicht schon während der Haft den Entschluss gefasst, nach Wien zurückzukehren, um dort am Kongress für die demokratische Sache in der Eidgenossenschaft zu kämpfen. Weil die Gefahr bestand, dass ihm die Luzerner Regierung die Ausreise verwehren könnte, griff er zu einem raffinierten Schachzug: Er reichte anfangs Oktober ein Revisionsbegehren zum Urteil ein, um seinen Plan zu verschleiern, und reiste wenige Tage später mit seiner Familie klammheimlich ab, — nicht ohne vorher noch eine neue Flugschrift zu lancieren, in welcher er die Gründe für die Volkspetition erläuterte und deren Inhalt gleich noch einmal Wort für Wort publizierte …
In Wien hatte der Kongress, wie wir wissen, angesichts der verworrenen Lage in der Eidgenossenschaft einen Sonderausschuss ins Leben gerufen, aber Troxler hatte als Privatmann keine Chance, dort Gehör zu finden. Doch das Glück war ihm hold:
Im Gefolge des preussischen Ministers Hardenberg befand sich Karl August Varnhagen von Ense, den Troxler vor fünf Jahren in Wien getroffen hatte. (…). Varnhagen, der mit publizistischen Aufgaben betraut war, muss schliesslich einen Weg gefunden haben, um Troxler zu helfen. Mitte Januar 1815 kam es zu einem ersten direkten Gespräch zwischen Troxler und Wilhelm von Humboldt, der im Ausschuss für die Schweizer Angelegenheiten Einsitz hatte. Wenige Tage zuvor hatte Troxler in einer schriftlichen Eingabe seinem Gesprächspartner seine Gedanken unterbreitet. Weitere persönliche Unterredungen folgten wahrscheinlich diesem ersten Treffen. Kontakte wurden schliesslich auch zum russischen Vertreter Kapodistrias geknüpft.
So überreichte er dem Schweizerischen Komitee ein Memorandum, welches wenig später als selbstständige und erweiterte Druckschrift mit dem Titel Über die Schweiz von Varnhagen veröffentlicht wurde. In mehr als einhundert Exemplaren fand Über die Schweiz seinen Weg ins öffentliche Publikum und zu wichtigen politischen Persönlichkeiten. (Daniel Furrer, Gründervater der modernen Schweiz. Ignaz Paul Vital Troxler)
In diesem Memorandum geisselte Troxler die Bestrebungen der aristokratischen Stadtkantone, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, und lobte die inzwischen abgeschaffte Mediationsakte als Grundlage für eine Erneuerung der Eidgenossenschaft:
Der mediationsmäßige Zustand hatte die Schweiz durch die wesentliche Einheit des in ihr aufgestellten Grundsatzes von Gleichheit der Schweizer in politischen Rechten, und durch die den einzelnen Theilen derselben zugegebne eigenthümliche Organisation vom drohenden Untergange gerettet und das gesammte Volk wieder näher auf die ihm eingeborne Bestimmung. und eigentlich alte Verfassung, zurückgeführt. (…)
Vergebens streben aber abgestorbene Wipfel. wenn sie sich auch umgekehrt in die Erde senken, wieder junge. lebenerfüllte Wurzeln zu werden. Dasjenige, was schon einmal das letzte Symptom der Auflösung eines Staates war, kann unmöglich die Grundveste seiner Wiedergeburt werden, und jenes Symptom der Zerrüttung ist und bleibt, wie Alle wissen, wenn das Ganze den Kantonen, diese einzelnen Gemeinden. und endlich die nur wcnigen Familien unterworfen werden.
Nicht um ihrer selbst willen sind die Unterschiede, noch weniger zum Verneinen; sondern da, wo sie wirklich gegeben sind. müssen sie sich rechtfertigen und geltend machen dadurch, daß sie durch Vereinigung dem Ganzen dienen, und Höheres gestalten.
Schon hier wird das grosse Thema spürbar, das Troxler über Jahrzehnte beschäftigen sollte:
Wie aus der Alten Eidgenossenschaft eine neue, lebendige und organische Einheit erwachsen könnte.
Troxlers Memorandum hatte allerdings keinen Einfluss mehr auf den Gang der Geschehnisse:
Im März griff Napoleon nach seiner Flucht aus Elba erneut nach der Macht. Eile war angesagt, und noch im gleichen Monat fiel der Entscheid der Grossmächte, der zum Bundesvertrag von 1815 führte. Daniel Furrer urteilt zu Recht:
Damit waren die Kämpfe um eine neue Form des Bundes zum Abschluss gekommen, war zugleich eine der schwersten inneren Krisen, die die Geschichte der Eidgenossenschaft kennt, überwunden. Der neue Bund vermochte allerdings nur wenige zu befriedigen. Er war ein Kompromiss, der sein Gepräge vor allem durch die erzwungene Berücksichtigung der weitgehenden Ansprüche der „alten Schweiz“ erhalten hatte. Besonders die Gebietsforderungen der „alten Schweiz“ hatten eine nachhaltige Erbitterung erzeugt und die Gegensätze ausserordentlich verschärft. Die Einigung, die schliesslich zustande kam, war nicht freiwilliger Art, sondern von den alliierten Mächten erzwungen worden und barg daher von vornherein den Zündstoff zu weiteren Konflikten.
Troxler war enttäuscht. Anstelle einer regenerierten Eidgenossenschaft sah er sich erneut einem lockeren Bund von inzwischen 22 souveränen Staaten gegenüber. Das neue Abkommen bedeutete die Rückkehr zu grösserer politischer Ungleichheit. Zwar sollte es keine Untertanen mehr geben, aber die Niederlassungsfreiheit, die Handels- und Gewerbefreiheit und die freie Ausübung der politischen Rechte fielen dahin. Ja, die einzelnen Stände waren sogar wieder berechtigt, mit dem Ausland zu verhandeln und untereinander Sonderbündnisse zu schliessen.
Doch Troxler gab nicht auf und konnte bekanntlich 1848 die Früchte seines beharrlichen Kampfes für eine neuen demokratischen Bundesstaat ernten.
Eine andere Persönlichkeit, die am Wiener Kongress ebenfalls für eine erneuerte Schweiz wirkte, war erfolgreicher: Charles Pictet de Rochemont. Ihr widmen wir die nächste Folge
am kommenden Donnerstag, den 30. Dezember!
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