“Gegen Mor­gen schob er seinen Lehn­stuhl dicht zum Fen­ster und schaute in die Mor­gendäm­merung und dann in die aufge­hende Sonne. Den ab und zu aufge­hen­den Frauen stre­ichelte er öfters trös­tend die Hände. Dann waren seine Augen plöt­zlich verän­dert … Er gab zu ver­ste­hen, dass er wün­schte, allein gelassen zu wer­den. Die Frauen gin­gen in die Küche, die durch Fen­ster in der Türe den Blick ins Schlafz­im­mer ges­tat­tet. So beobachteten sie den Ster­ben­den von Zeit zu Zeit. Er zog sich das Hemd vom Leib und sass mit nack­tem Oberkör­p­er, die Arme aus­ge­bre­it­et, den Kopf gegen das Fen­ster gerichtet zur Sonne hin, die soeben aufging und so hat er nach und nach ausgeatmet …”
So schildert seine Frau Mena den Tod Gus­tav Meyrinks am 4. Dezem­ber 1932 in Starn­berg. Damit endete das Leben eines der faszinierend­sten deutschen Schrift­stellers des 19./20. Jahrhun­derts, — ein Leben so voll von Wech­selfällen, spir­ituellen Aben­teuern und tiefen Erfahrun­gen, dass es sich lohnt, einen genaueren Blick auf dieses Leben und das schrift­stel­lerische Werk zu wer­fen. Meyrink war, ähn­lich wie Simone Weil, ein kom­pro­miss­los­er Erforsch­er des Rät­sels namens “Men­sch” jen­seits irgendwelch­er Dog­men und spir­itueller Scheuk­lap­pen. Er war ein Bürg­er­schreck, gefürchteter Satirik­er, uner­müdlich­er Wahrheitssuch­er und zurück­ge­zo­gen­er Eremit in einem.

Meine Bege­nung mit Meyrink liegt Jahrzehnte zurück, als mir sein erster Roman, der ihn schla­gar­tig berühmt machte, in die Hände fiel und mich zutief­st faszinierte: “Der Golem”. Er öffnete mir die Türe zu seinen weit­eren Werken. Doch bevor wir uns auf seine okkult-fan­tastis­che lit­er­arische Welt ein­lassen, gilt es einen Blick auf sein Leben zu werfen.

Gus­tav Mey­er war ein ille­git­imes Kind, her­vorge­gan­gen aus ein­er amourösen Liai­son zwis­chen dem würt­tem­ber­gis­chen Min­is­ter­präsi­den­ten Friedrich Karl Got­tlieb Frei­herr von Varn­büler und ein­er hüb­schen Schaus­pielerin am königlichen Hofthe­ater in Stuttgart, Marie Mey­er. Um einen Skan­dal zu ver­mei­den, brachte sie Gus­tav am 19. Jan­u­ar 1868 im Hotel “Zum blauen Bock” in Wien zur Welt.

Da seine Mut­ter auf­grund ihres Berufes den Wohnort häu­fig wech­selte, absolvierte er seine Schulzeit zuerst in München, dann in Ham­burg und schliesslich in Prag, wo er sie als Schüler der Prager Han­del­sakademie abschloss. Prag sollte sein schrift­stel­lerisches Wirken zutief­st prägen:
“Schon damals, als ich über die uralte Stein­erne Brücke schritt, die hinüber­führt über die ruhevoll fliessende Moldau zum Hrad­schin mit seinem den fin­steren Hochmut alter Hab­s­burg­ergeschlechter aushauchen­den Schloss, da befiel mich ein tiefes Grauen, für das ich keine Erk­lärung wusste. Jene Bangigkeit hat mich seit diesem Tage keinen Augen­blick ver­lassen, solange ich — ein Men­schenal­ter hin­durch — in Prag lebte, der Stadt mit dem heim­lichen Herzschlag.”

Dass Prag mit sein­er bewegten Geschichte bis heute eine grosse Fasz­i­na­tion ausübt, zeigt sich an den Touris­ten­strö­men, die seit dem Zusam­men­bruch des kom­mu­nis­tis­chen Regimes Jahr für Jahr in diese Stadt strö­men. Heute voll­ständig tschechisch geprägt, lebte dort zur Zeit Meyrinks noch eine grosse deutsche Min­der­heit und eine lebendi­ge jüdis­che Gemeinde, — heute nur noch dank des berühmten alten jüdis­chen Fried­hofs und der Alt­neu-Syn­a­goge aus dem 13. Jhdt. gegen­wär­tig. Sie und das Ghet­to ste­hen im Zen­trum der berühmten Prager Golem-Sage.

Nach seinem Schu­la­b­schluss deutete nichts auf eine schrift­stel­lerische Kar­riere hin. Als Volljähriger hat­te er Zugriff auf das Ver­mächt­nis, das sein adeliger Vater für seine Erziehung bere­it­gestellt hat­te. Mey­er beschloss, sich damit das Leben eines extrav­a­gan­ten Dandys zu finanzieren und zusam­men mit einem Part­ner in das Bankgeschäft einzusteigen. Die Fol­gen waren katastrophal.

Darüber mehr in unser­er näch­sten Folge am kom­menden Sam­stag, den 12. Dezember!

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Für Neugierige: Diese Serie stützt sich — abge­se­hen von Meyrinks eigen­em Werk — u.a. auf fol­gende Biografien:
Hart­mut Binder, Gus­tav Meyrink. Ein Leben im Banne der Magie. Vital­is, Prag, 2009.
Theodor Harm­sen, Der magis­che Schrift­steller Gus­tav Meyrink, seine Fre­unde und sein Werk. Bib­lio­the­ca Philo­soph­i­ca Her­met­i­ca, Ams­ter­dam, 2009
Mike Mitchell, Vivo. The Life of Gus­tav Meyrink, Dedalus, 2008
sowie diverse Fachartikel

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Lebendige Birs 1
Tür.li 6 (2020)

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