“Die Hand­lung spielt im Pra­ger Ghet­to im Juden­vier­tel. Die Atmo­sphä­re ist düs­ter, gif­tig, und die Armut des Ghet­tos ist in sei­ne Bewoh­ner gesun­ken, dar­un­ter Mör­der, Die­be und Pro­sti­tu­ier­te. Die Gebäu­de haben ihr eige­nes Leben, hier sind sie nicht nur Dekor, son­dern ein leben­di­ger Spie­ler im Spiel, … In der Tat ist die all­ge­mei­ne Stim­mung des Romans von Angst geprägt, aber sie wech­selt mit Epi­so­den des Wit­zes, der Gelas­sen­heit und des Gefühls der völ­li­gen Sicher­heit ab, die mit eini­gen der Haupt­ak­teu­re ver­bun­den sind. … Was die ande­ren Figu­ren des Romans betrifft, so stel­len sie wirk­lich erstaun­li­che psy­cho­lo­gi­sche Por­träts dar. Beim Auf­bau sei­ner Cha­rak­te­re hat sich Mey­rink selbst über­trof­fen. Jede von ihnen steht in abso­lu­tem Kon­trast zu den ande­ren, ist meis­ter­haft kon­zi­piert, bis ins kleins­te Detail. … Die Lie­be des Schrift­stel­lers zum Okkul­ten hat sei­ne Phan­ta­sie offen­sicht­lich in eine Rich­tung ent­wi­ckelt, die eine Ein­la­dung an alle muti­gen Leser ist, die bereit sind, sich auf die­se selt­sa­me Rei­se mit unbe­kann­tem Aus­gang einzulassen.”
So cha­rak­te­ri­siert ein ame­ri­ka­ni­scher Kri­ti­ker den Roman.

Etwas von die­sem düs­te­ren Grund­ton, der die gan­ze Geschich­te durch­zieht, wird in den hier gezeig­ten Illus­tra­tio­nen des Pra­ger Illus­tra­tors Hugo Stei­ner-Prag spür­bar. Eigent­lich war dafür Alfred Kubin vor­ge­se­hen, aber die lan­ge Ent­ste­hungs­ge­schich­te des Romans ver­hin­der­te dies. Tat­säch­lich arbei­te­te Mey­rink über sie­ben Jah­re lang am “Golem”. Es gab lan­ge Schreib­pau­sen, Momen­te der Verzweiflung.

Hil­fe zur Wei­ter­ar­beit fand er bei einem Mathematiker:
“Noeg­ge­rath ent­wirr­te den Knäu­el (das Manu­skript, in dem Mey­rink sich nicht mehr aus­kann­te. Anm. d. Verf.). Er leg­te eine Art Ster­nen­kar­te an. Für jede vor­kom­men­de Figur mach­te er einen Punkt und setz­te den Namen dane­ben. (…) Per­so­nen, die für Weg, Sinn und Atmo­sphä­re des Romans bedeu­tungs­los waren, wur­den der Ver­nich­tung empfohlen.”
— und bei sei­nem alten Freund Fried­rick Eck­stein:
“Mey­rink schil­der­te sei­nem Freun­de, daß er nicht recht wis­se, wie sein Roman wei­ter gestal­tet wer­den sol­le. Da erbat sich Eck­stein ein gro­ßes Blatt Papier und einen Blei­stift, zeich­ne­te eine Art Schach­brett­mus­ter und trug dar­auf die im fer­ti­gen Teil des Romans auf­tre­ten­den Figu­ren ein. Dann mach­te er einen Vor­schlag für eine Rei­he wei­te­rer Kapi­tel, indem er mit den Roman­ge­stal­ten wie mit Schach­fi­gu­ren auf jenem Blatt Papier zog.”

Als “Der Golem” schliess­lich im Jah­re 1915 in Buch­form publi­ziert wur­de, über­traf der Erfolg alle Erwar­tun­gen: Bis 1917 waren 150’000 Exem­pla­re in ver­schie­dens­ten Neu­auf­la­gen ver­kauft. Beson­ders attrak­tiv scheint eine “Feld­post­aus­ga­be” gewe­sen sein, denn ein Kom­men­ta­tor schrieb: “Nahe­zu zehn Pro­zent der Leser mel­de­ten sich zu Wort. Samt und son­ders hat­ten sie was auf dem Her­zen. Der Lite­rat von heu­te wür­de sagen: sie waren ange­rührt. Ja, das waren sie tat­säch­lich. … Sie waren zutiefst irgend­wie angerührt.”

Span­nen­de Fra­ge, was den Roman trotz sei­nes düs­te­ren Hin­ter­grunds so attrak­tiv mach­te. Die beschei­de­ne Mei­nung des Schrei­ben­den ist, dass es Mey­rink gelang, vor dem Hin­ter­grund all des Elends und der mensch­li­chen Ver­wor­fen­heit spür­bar wer­den zu las­sen, dass es im Leben auch ande­re, geheim­nis­vol­le Dimen­sio­nen gibt,  uner­schüt­ter­li­ches Ver­trau­en und eine Lie­be jen­seits von Zeit und Raum, die auch der Tod nicht zer­stö­ren kann, — eine tröst­li­che Visi­on ange­sichts des Kriegsgrauens …

Als der Erzäh­ler am Schluss der Geschich­te aus sei­nem Traum erwacht und sich auf die Suche nach dem Gemmen­schnei­der Atha­na­si­us Per­nath macht, des­sen Hut er fälsch­li­cher­wei­se mit­ge­nom­men hat­te, steigt er, um ihn dem Besit­zer zurück­zu­brin­gen, in das Gold­ma­cher­gäss­chen beim Hradschin hoch und kommt am Ende zu einem geheim­nis­vol­len Haus, das er im Traum schon ein­mal besucht hatte:

“Aber, wo heu­te nacht das Holz­git­ter vor dem weiß­schim­mem­den Haus gestan­den hat, schließt jetzt ein pracht­vol­les, gebauch­tes, ver­gol­de­tes Git­ter die Gas­se ab. Zwei Eiben­bäu­me ragen aus blü­hen­dem, nie­de­rem Gesträuch und flan­kie­ren das Ein­gangs­tor der Mau­er, die hin­ter dem Git­ter ent­lang läuft. Ich stre­cke mich, um über das Strauch­werk hin­über­zu­se­hen, und bin geblen­det von neu­er Pracht: Die Gar­ten­mau­er ist ganz mit Mosa­ik bedeckt. Tür­kis­blau mit gol­de­nen, eigen­ar­tig gemu­schel­ten Fres­ken, die den Kult des ägyp­ti­schen Got­tes Osi­ris darstellen.

Das Flü­gel­tor ist der Gott selbst: ein Herm­aphro­dit aus zwei Hälf­ten, die die Türe bil­den, – die rech­te weib­lich, die lin­ke männ­lich. – Er sitzt auf einem kost­ba­ren, fla­chen Thron aus Perl­mut­ter – im Halb­re­li­ef – und sein gol­de­ner Kopf ist der eines Hasen. Die Ohren sind in die Höhe gestellt und dicht anein­an­der, daß sie aus­se­hen wie die bei­den Sei­ten eines auf­ge­schla­ge­nen Buches. Es riecht nach Tau, und Hya­zin­then­duft weht über die Mau­er her­über. – – Lan­ge ste­he ich wie ver­stei­nert da und stau­ne. Mir wird, als trä­te eine frem­de Welt vor mich, und ein alter Gärt­ner oder Die­ner mit sil­ber­nen Schnal­len­schu­hen, Jabot und son­der­bar zuge­schnit­te­nem Rock kommt von links hin­ter dem Git­ter auf mich zu und fragt mich durch die Stä­be, was ich wünsche.

Ich rei­che ihm stumm den ein­ge­wi­ckel­ten Hut Atha­na­si­us Per­naths hin­ein. Er nimmt ihn und geht durch das Flü­gel­tor. Als es sich öff­net, sehe ich dahin­ter ein tem­pel­ar­ti­ges, mar­mor­nes Haus und auf sei­nen Stu­fen: .…. ” Das soll der geneig­te Leser und die geneig­te Lese­rin sel­ber herausfinden 😉

Da eine Zusam­men­fas­sung des “Golem” auf weni­gen Zei­len ange­sichts sei­ner Kom­ple­xi­tät und Viel­schich­tig­keit wenig Sinn macht, sei hier für Inter­es­sier­te ein­fach noch­mals auf die gemein­freie Guten­berg Aus­ga­be als PDF verwiesen.

Gus­tav Mey­rink schrieb den Roman nicht in Prag, son­dern in Mün­chen. Er hat­te sich 1906 nach den vie­len nega­ti­ven Erfah­run­gen defi­ni­tiv aus Prag ver­ab­schie­det. Doch auch in Mün­chen wur­de er dank sei­ner Bei­trä­ge im Sim­pli­cis­si­mus bald stadt­be­kannt und in die Intel­lek­tu­el­len- und Künst­ler­krei­se der Stadt integriert.

Dar­über mehr am kom­men­den Sams­tag, den 23. Januar.

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