“Unglücklich das Land, das keine Helden hat”, lässt Bertolt Brecht am Ende seines Dramas “Das Leben des Galilei” den Studenten Andrea Sarti sagen, worauf Galilei kontert: “Unglücklich das Land, das Helden nötig hat”.
Ja, was denn nun? Lassen wir also Dieter Thomä, den Autor des Bestsellers “Warum Demokratien Helden brauchen” zu Wort kommen. (Die Auszüge stammen aus einem Text von und einem Interview mit Thomä zum Thema, die in der NZZ und der “Berner Zeitung” veröffentlicht wurden.)
“Kürzlich hat der österreichische Kulturminister den Vorschlag gemacht, den Wiener Heldenplatz, der seit 1878 so heisst, in «Platz der Demokratie» umzubenennen. Sind Helden Fremdkörper in einer Demokratie? Soll man sie im Namen der Gleichheit zu unzeitgemässen, unerwünschten Ausnahmen erklären? Die Antwort auf diese Fragen – sie lautet Nein – ist schon vor gut 150 Jahren gegeben worden. Damals stritten sich zwei grosse Geister ums Heldentum.
Der Brite Thomas Carlyle, der das Kunststück fertigbrachte, zugleich harter Konservativer und Kapitalismuskritiker zu sein, erklärte, die Weltgeschichte sei eigentlich die «Geschichte der grossen Männer», und sah in den «Helden» die einsamen Herolde des «Weltschöpfers» im Maschinenzeitalter. Von den im Betrieb bornierten Menschen forderte er, sich brav diesen Helden zu «unterwerfen». Politisch hiess dies für Carlyle: Monarchie ja, Wahlrecht nein.
Der Amerikaner Ralph Waldo Emerson, radikaler Individualist und Demokrat, wollte diese Zwei-Welten-Lehre nicht hinnehmen, sondern die Helden in der Demokratie willkommen heissen. Seinem Buch über Helden gab er 1850 den Titel «Representative Men», und dieser Titel verrät schon alles. Für ihn waren die Helden nicht – wie für Carlyle – die grossen Macher, die über den Rest der Welt erhaben waren, sondern «Repräsentanten der Menschheit». Das heisst: Die Helden bringen zum Ausdruck oder setzen in die Tat um, was in jedem von uns steckt – Träume und Gedanken, die über unsere aktuelle Lage hinausreichen. Weil jeder «Hafen», in dem wir uns sicher fühlen, doch auch etwas von einem «Gefängnis» hat, sehen wir in den Helden nach Emerson «befreiende Götter»: «Wir lieben den Dichter, den Erfinder, der uns in irgendeiner Form, ob in einer Ode oder in einer Tat, einen neuen Gedanken eingibt. Er löst unsere Ketten und gewährt uns Zutritt auf eine neue Bühne. Diese Befreiung ist allen Menschen teuer.
… Emerson hat dieses Heldentum dann sogar auf politische Repräsentanten in der Demokratie bezogen, deren Aufgabe er darin sah, nicht nur den Volkswillen zu spiegeln, sondern diesen Willen zukunftsträchtig weiterzuentwickeln. Man kann diese Idee waghalsig finden, doch als Gegengift zur Bedienung kurzfristiger Wähler- und Lobbyinteressen taugt sie allemal.
Emersons Verteidigung des Helden ist ein produktiver Vorschlag für eine entspannte Wertschätzung der Ungleichheit. Helden sind anders, ja sogar «am meisten anders» («the otherest») aber dieses Andere steckt doch auch in uns. Helden vertreten eine Sache, die grösser ist als sie selbst, sie stehen für das Beste in uns – ein Bestes, für das wir selbst vielleicht nicht ganz gut genug sind. So gilt doch: Unglücklich das Land, das keine Helden hat.” (NZZ)
Nicht überzeugt? Stellen wir Dieter Thomä also noch ein paar zusätzliche Fragen.
Helden vollbringen mit ihren Taten Aussergewöhnliches, ja Übermenschliches – wie sollen sie da die Menschheit repräsentieren?
“Brauchen Menschen Übermenschen? Wir brauchen keine Aliens, die über uns auf einem Thron schweben und verächtlich auf uns herabschauen. Aber wir brauchen Menschen, die uns daran erinnern, das in uns allen Grösseres schlummert, ein Feuer, das vielleicht auch innere und äussere Kämpfe braucht, um sich zu entfalten. Es geht um die Selbstüberwindung. Und diese ist tiefmenschlich.
Braucht ein Held nicht auch eine Portion Grössenwahn?
Nicht unbedingt. Helden müssen sich primär überwinden, um all die Dinge zu tun, die sich andere nicht trauen. Wenn sie auch noch etwas zum ersten Mal tun, wenn sie Grenzen überschreiten, wagen sie einen Schritt ins Unbekannte. Wie soll man da einschätzen, ob man es schafft oder nicht, wenn man keinen Vergleich hat? Wie wollen Sie in diesen unbekannten Sphären Selbstvertrauen von Grössenwahn unterscheiden? Helden sind Menschen, die bereit sind, diese Grauzone zwischen Selbstüberwindung und Selbstüberschätzung auszuloten, ohne zu wissen, ob sie daran scheitern.
Ist Heldentum überhaupt erstrebenswert?
Es ist sogar unverzichtbar.
In einer demokratischen Wohlstandsgesellschaft herrscht doch keine Not oder Krise, die nach einer Heldentat verlangt.
Es gibt tatsächlich eine Art Heldenabschaffung in der Wohlstandsgesellschaft. Aber eine Gesellschaft, die glaubt, alles laufe so glatt und störungsfrei, dass sie gar keine Helden brauche, ist extrem gefährdet.
Weshalb?
Weil wir keineswegs unbedroht sind. Auch Demokratien brauchen eine Bereitschaft zum Heldentum, denn es gibt immer unvermutete Herausforderungen und Situationen, in denen man nicht mehr so weitermachen kann wie bisher. Die jüngsten Entwicklungen auf der Welt müssten uns eigentlich eines Besseren belehren. Leider stecken manche europäischen Gesellschaften in einer Art Vorruhestand – und dieser Zustand ist trügerisch.
Wie meinen Sie das?
Weil sich Gesellschaften nie im Ruhestand, sondern quasi immer in der Mitte des Lebens befinden. Sie haben eine Vergangenheit und eine Zukunft. Und für Letztere muss man sich wappnen, egal wie gut es gerade läuft. Helden braucht es deshalb immer.
Wer sind die wahren Helden von heute?
Zum Beispiel der tunesische Obsthändler Mohamed Bouazizi, der den Arabischen Frühling ausgelöst hat, indem er sich verbrannt hat. Nimmt man noch all die bereits erwähnten stillen Helden dazu, dann gibt es vielleicht mehr wahre Helden, als wir meinen. Für mich persönlich sind auch Menschen Helden, die sich gegen autoritäre Regimes stellen. Und derzeit gibt es meiner Meinung nach auch eine neue Heldenkarriere, die vielen offenstünde: Verteidiger der Demokratie. (Berner Zeitung)
Alles klar? — Wenn nicht, Fortsetzung anklicken :-), — die ferienhalber erst in drei Wochen erscheint.
Christoph Meury
Juli 4, 2020
Nachdem Helden inflationär und unvermittelt im Alltag auftauchen und man sich hüten muss, um von ihnen nicht unfreiwillig über die Strasse gezerrt zu werden, einen Mundschutz verpasst zu bekommen, oder von der nächsten Demo verscheucht zu werden, wird Mensch langsam leicht paranoid. Hinter jeder Migros-Kasse, in jedem Spital, ja, auch in den Schulen lauern Alltagshelden. Superman & Batman haben ausgedient, sind Comixmüll. Die Selfiemanie ist in die neue Normalität übergeschwappt und gebiert an allen Ecken und Enden neues Heldentum. Es wird Zeit sich Aluhüte zu basteln, oder sich auf einer Baumhütte vorübergehend in Sicherheit zu bringen.
Hans-Jörg Beutter
Juli 4, 2020
was nebst den alltagshelden hauptsächlich ins kraut schiesst zu coronazeiten, sind offensichtlich die kommentatatoren, die ihre persönliche meinung zu allem und jedem äussern müssen, sie für unendlich wichtig, quasi als einzig relevante erachten.
in der »republik« gibt’s zu jedem inhaltlichen beitrag unterdessen quasi 300 morzwichtige äusserungen (wobei jeweils jede/r seinen ewiggleichen, unveränderbaren standpunkt mitverbrät, darauf beharrt – um sich quasi vom beitrag ultimativ abzugrenzen – »contextual distancing«).
und im birsfälderli reichts da halt jeweils zu einer einzigen alleingültigen protomeinung 😉
debatte geht irgendwie anders findi.
max feurer
Juli 4, 2020
Christoph Meury liefert ein paar wunderschöne Beispiele für die Heldeninflation, die wir heute erleben. Aber das hat nun wirklich nichts zu tun mit dem Heldenbegriff, den wir bei Campbell, Müller und Thomä finden.
Deshalb werde ich mir auch weiterhin erlauben, dem “Helden” etwas unter die Haube zu gucken 🙂
Anton Roth
Juli 4, 2020
Einverstanden.
Aber, wer möchte mit Selbstdarstellern und Besserwissern debattieren?
Fritz Portner
Juli 4, 2020
Wir brauchen keine Helden, aber mutige Menschen, die den Humanismus und die Demokratie verteidigen.
Apropos Demokratie: Es zeigt sich immer mehr, dass die Konkurrenz-Demokratien à la USA, UK etc. für globale Lösungen nicht geeignet sind. Was funktioniert sind eigentlich nur Konkordanz-Demokratien.
Christoph Meury
Juli 4, 2020
Ist doch eine schöne Sache, dass es landauf & landab einige hundert Kommentatatatratoren gibt. Da die Stammtische geschlossen sind, müssen die Menschen, wenn’s unter den Nägeln brennt, auf die sozialen Netzwerke ausweichen. Schreibend Dampf ablassen ist doch besser als wenn sie kiffen & saufen. Wer ist der Oberdruide, der uns sagt, was wichtig und was unwichtig ist? Ich kann zur Not auch mit dem Heldenübermass, sogar mit aufgeblasenen XXL-Helden leben. Ob Alltagshelden oder literarisch veredelte Helden ist mir eigentlich auch schnuppe. Die diskursive Beschäftigung mit personifizierten Helden ergibt keinen Mehrwert. Ist wie Schattenboxen. Heldendenkmäler sind Quatsch und so ersprießlich wie Gessler-Hüte auf Stangen.
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Wennschon interessiert mich dabei am ehesten der Kontext. Ein Held erscheint uns als Held, weil er sich offensichtlich anderes als die anderen verhält. Offensichtliche Missstände nicht aushält und dagegen rebelliert. Er versucht Veränderungen herbeizuführen und ist bereit sich zu exponieren. Sein sicheres Umfeld verlässt, um Remedur zu schaffen. Herunterklettert vom Elfenbeinturm der letzten Erkenntnis und sich in die Niederungen der realen Welt begibt, dabei auf Kampfmodus stellt und beginnt im Getümmel der profanen Alltäglichkeit seine Hände schmutzig zu machen. Ein bisschen Besserwisserei und Selbstdarstellung gehört zum Spiel und ist ein Motivationstreiber. Manchmal erfolgreich, manchmal weniger erfolgreich. Egal! Er/sie hat’s versucht.
max feurer
Juli 4, 2020
Dem zweiten Teil des Kommentars von Christoph Meury stimme ich grösstenteils zu. Der Text von Anne Applebaum (als PDF neu beim Köppel-Text zu finden) illustriert den Unterschied zwischen jenen die offensichtliche Missstände schweigend annehmen, weil sie sich u.a. davon Vorteile erhoffen, und jenen, die es wagen “ihr sicheres Umfeld” zu verlassen.