Ein Beitrag unser­er Gas­tau­torin Bar­bara Büchler

Wun­der­lich – erstaunlich – spannend …

Seeschei­den, lat. Ascidi­ae, sind in allen Meeren heimisch. Sie kön­nen von weni­gen Mil­lime­tern bis zu etwa 30 cm gross wer­den und sie sind schön. Sie bilden ver­schiedene rohrför­mige Gestal­ten und präsen­tieren sich meist in kräfti­gen Far­ben. Seeschei­den sind Man­teltiere. Sie haben eine cel­lu­losear­tige Hülle, mit deren Fort­sätzen sie sich am Meeres­grund verankern.

Bevor sich die Seeschei­den einen gemütlichen Platz für ihre Sesshaftigkeit suchen, treiben sie als Lar­ven in den Meer­esströ­mungen umher. In diesem Sta­di­um ähnelt die Seeschei­de den Lar­ven von Wirbeltieren. Sie besitzt eine Chor­da und ein Neu­ral­rohr, sie hat eine aus­ge­bildete Hir­nan­lage und sie hat ein Auge. Diese Organe benötigt sie für die Ori­en­tierung und Fort­be­we­gung im Wasser.

The colo­nial Mag­nif­i­cent Ascid­i­an (Botryl­loides mag­ni­coecum). Bass Point, Shell­har­bour, NSW

Dann begin­nt ein selt­samer Vor­gang. Die Seeschei­den­larve dockt sich mit ihrem Haf­tap­pa­rat an einem gemütlichen Plätzchen an. Sie begin­nt das Gehirn samt Rückenmark und Auge zu ver­speisen. Die einzige Aktiv­ität ihres täglichen Lebens wird es for­t­an sein, Schwe­beteilchen aus der Strö­mung zu fil­tern und sie zu fressen. Da dies kein beson­ders intellek­tueller Vor­gang ist, benötigt sie dafür auch kein Gehirn mehr.

Tauchen wir von den wun­der­lichen Seeschei­den aus einem x‑beliebigen Meer auf und begeben wir uns aufs Fes­t­land. Nehmen wir an, es ist April 2020. Trotz frühlingshafter Stim­mung und wun­der­schönem Wet­ter sitzt die Mehrheit der Men­schen zu Hause – auf einem Stuhl am Schreibtisch oder Esstisch, auf dem weichen Sofa oder im gemütlichen Ses­sel, vielle­icht auch einige jüngere Exem­plare am Boden.

Obwohl dieses Ver­hal­ten für den Homo sapi­ens recht typ­isch ist, scheint es in dieser Zeit sig­nifikant aus­geprägt zu sein. Die Erk­lärung dafür ist ein pan­demisch ver­bre­it­etes Virus, das Coro­na genan­nt wird und das den Seeschei­den ist Sachen Schön­heit nicht nachsteht.

Nun ja, im Gegen­satz zur Seeschei­de ist das Coro­n­avirus nicht wirk­lich so schön far­big. Das far­bige Virus im Bild ist ein Pro­dukt der mod­er­nen Technik.

Zurück zum Men­schen und dem Sofa: Es scheint ger­ade so, als hät­ten sich die Men­schen wie Seeschei­den­lar­ven an ihre Stühle, Sofas und Ses­sel gedockt. Und ja, auch beim Men­schen begin­nt eine Meta­mor­phose… Nicht auszu­denken, wie es um die Hirnka­paz­ität der men­schlichen Bevölkerung ste­hen wird, wenn das gewohnte alltägliche Leben in ein paar Wochen hof­fentlich wieder seinen Lauf nehmen darf.

Wir sind also gut berat­en, uns nicht wie Seeschei­den­lar­ven zu ver­hal­ten. Nutzen wir die son­ni­gen Tage und geniessen wir das Erwachen der Natur gemütlich zu Fuss. Wenn wir’s alleine oder mit unseren Wohngenoss*innen tun und wenn wir’s dort tun, wo’s nicht schon viele andere tun, dann ist dies ein deut­lich­es Zeichen dafür, dass unser Gehirn dur­chaus weit­er­hin ernährt wer­den sollte!

Für alle die noch mehr über die Vorzüge des Gehens wis­sen wollen, erk­lärt Shane O’Mara in seinem Buch «Das Glück des Gehens» anschaulich, warum uns das Gehen gut tut. Shane O’Mara ist Pro­fes­sor für Exper­i­mentelle Neu­rowis­senschaft am Trin­i­ty Col­lege der Uni­ver­sität Dublin. Von ihm stammt auch die wun­der­bare Ver­an­schaulichung der Zusam­men­hänge zwis­chen Bewe­gung und Hirn durch die Seescheiden.
Wer sich noch weit­er in das son­der­liche und kom­plexe Leben und Wesen der Seeschei­den ver­tiefen will, find­et im Inter­net viele inter­es­sante Infor­ma­tio­nen und wun­der­schöne Bilder.

Quellen zum Text: Shane O‘Mara „Das Glück des Gehens“, Rowohlt, 2020 (Orig­i­nal „ In Praise of Walk­ing“, Bod­ley Head/Vintage/PenguinRandomHouse, 2019), www.taucher.net und www.spektrum.de.
Bilder: Titel: Ernst Haeck­el; Bilder in der vork­om­menden Rei­hen­folge: Botryl­loide: Richard Ling; Didem­num: U.S. Geo­log­i­cal Sur­vey Dann Black­wood; Sars-CoV­‑2: CDC/Alissa Eck­ert, MS; Dan Hig­gins, MAM; Blue­bell tuni­cates: Nick Hobgood

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