Wer sich an einem Wochenende auf den Odilienberg in der Nähe von Barr begibt, dem fallen auf dem grossen Parkplatz sofort die vielen Reisebusse auf, die oft von weither kommen: Le Mont Saint Odile ist der heilige Berg des Elsass. Das Kloster Hohenburg war im Mittelalter europaweit als wichtiger Wallfahrtsort bekannt und ist es bis heute weit über das Elsass hinaus geblieben.
Unser letzter Streifzug beginnt deshalb mit einer Legende:
Es lebte vor langer Zeit im Elsass ein harter heidnischer Fürst mit Namen Eticho. Eines Tages wurde ihm ein Töchterchen geboren, doch es war blind. Der Vater beschloss deswegen, es töten zu lassen. Doch die Mutter übergab es einer treuen Amme, die das Kindchen in ein Kloster im Burgunderland brachte. Dort wurde es aufgezogen und ausgebildet.
Eines Tages hatte der wandernde Bischof Erhard von Regensburg eine innere Schauung, die ihn zur inzwischen zwölfjährigen Odilia führte. Als er sie taufte, wurde sie wieder sehend. Sie wünschte, trotz allem ihren Vater zu besuchen und bat ihren Bruder Hugo, sich für sie einzusetzen. Doch der Herzog stellte sich taub. Als Hugo seine inzwischen herangewachsene Schwester trotzdem nach Hause brachte, erschlug ihn der Vater in seinem Zorn. Zutiefst geschockt von seiner unbeherrschten Tat nahm er Odilia wieder auf, und sie entwickelte sich zu einer wunderschönen jungen Frau. Von überall her kamen angesehene Freier.
Als der Vater beschloss, sie zu verheiraten, floh Odilia erneut. Ihr Vater verfolgte sie. Schliesslich gelangte sie nach Arlesheim, wo sie sich in der Eremitage in einer Felsspalte versteckte. Als der Vater sie packen wollte, verletzte er sich durch einen herabfallenden Felsbrocken schwer. Odilia pflegte ihn daraufhin wieder gesund, was bei ihm zu einem grundlegenden Sinneswandel führte.
Er respektierte den Entschluss Odilias nicht zu heiraten und ihr Leben Gott zu weihen und schenkte ihr das Schloss Hohenburg. Odilia wandelte es in ein Frauenkloster um und wurde zu dessen erster Äbtissin. Seither wird der Berg Odilienberg genannt.
Soweit die Legende, von der mehrere Versionen existieren. In einer anderen flieht Odilie zum Beispiel ins Musbachtal bei Freiburg im Breisgau und nicht nach Arlesheim.
Was aber sicher ist: Dahinter steckt ein handfester historischer Kern. Offensichtlichster Beweis ist natürlich die Existenz des Klosters Hohenburg selber, aber auch des Bischofs Erhard von Regensburg. Nicht zuletzt befindet sich in einer der Kapellen der Sarkophag von Odilia. Und der war berühmt: Ob Karl der Große, Ludwig der Fromme, Papst Leo IX., Friedrich Barbarossa, Richard Löwenherz schon zum Grab pilgerten, wie behauptet wird, weiss ich nicht. Gesichert ist aber der Besuch von Karl IV., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, König von Böhmen und Italien, der ein Loch in den Sarkophag schlagen liess, um ihm Vorderarmknochen zu entnehmen. Sie sollten in der Kapelle seiner Burg Karlstein in der Nähe von Prag den Schutz vor dem in Europa wütenden Schwarzen Tod verstärken und die dort aufbewahrten Reichsinsignien beschützen.
Der Odilienberg strahlt aber noch aus einem anderen Grund eine besondere Atmosphäre aus: Seine Geschichte geht nämlich viel weiter zurück. Abgesehen davon, dass er wie auch andere Berge in den Vogesen mit Sicherheit schon in keltischer Zeit ein Kultort war, weist er ein Geheimnis auf, dessen Ursprung und Zweck bis heute intensiv diskutiert wird: Die zehn Kilometer lange “Heidenmauer”, die sich um den Berg zieht.
Am nächsten Donnerstag, den 6. Mai, beginnen wir unseren Streifzug auf dem Mont Saint Odile und vertiefen uns in seine Geschichte.
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