Trotz­dem beschloss sie, sich weder tau­fen zu las­sen noch offi­zi­ell der Kir­che bei­zu­tre­ten. Warum?

Eine Ant­wort lie­fert uns ein Brief, den sie vor ihrer Abrei­se im Novem­ber 1942 an den Domi­ni­ka­ner und Glas­ma­ler Marie-Alain Cou­turi­er schrieb, der in New York die fran­zö­si­sche Gemein­de betreu­te. Er wur­de 1951 von Albert Camus post­hum unter dem Titel “lett­re à un reli­gieux” ver­öf­fent­licht und erlang­te rasch eine gewis­se Berühmt­heit, weil Simo­ne Weil dar­in Gedan­ken und Zwei­fel äus­ser­te, die mit dem dog­ma­ti­schen kirch­li­chen Chris­ten­tum unver­ein­bar waren.

Schau­en wir uns doch eini­ge weni­ge Aus­schnit­te dar­aus an (für die Über­set­zung über­nimmt der Schrei­ben­de die vol­le Verantwortung ;-):

Die Gefüh­le der so genann­ten Hei­den für ihre Sta­tu­en waren höchst­wahr­schein­lich die glei­chen wie die, die heu­te von den Kru­zi­fi­xen und Sta­tu­en der Jung­frau Maria und der Hei­li­gen inspi­riert sind. …
Auch wenn sie manch­mal glaub­ten, die Gott­heit sei in Stein oder Holz völ­lig prä­sent, könn­ten sie manch­mal Recht haben. Glau­ben wir nicht an Gott, der in Brot und Wein gegen­wär­tig ist? Viel­leicht gab es eine wirk­li­che Gegen­wart Got­tes in Sta­tu­en, die nach bestimm­ten Riten aus­ge­führt und geweiht wurden.

Die Zere­mo­nien der Mys­te­ri­en von Eleu­sis und Osi­ris gal­ten als Sakra­men­te in dem Sin­ne, wie wir sie heu­te ver­ste­hen. Und viel­leicht waren sie wah­re Sakra­men­te, die die­sel­be Aus­wir­kung wie die Tau­fe oder die Eucha­ris­tie hat­ten und die­se Kraft aus der­sel­ben Bezie­hung zur Pas­si­on Chris­ti schöpften.

Es mag in ver­schie­de­nen Völ­kern (Indi­en, Ägyp­ten, Chi­na, Grie­chen­land) hei­li­ge Schrif­ten gege­ben haben, die auf die­sel­be Wei­se offen­bart wur­den wie die jüdisch-christ­li­chen Schrif­ten. Eini­ge der Tex­te, die heu­te noch erhal­ten sind, kön­nen Frag­men­te oder Anklän­ge an sie sein.

Vie­le Namen grie­chi­scher Gott­hei­ten sind wahr­schein­lich in Wirk­lich­keit meh­re­re Namen, die eine ein­zi­ge gött­li­che Per­son bezeich­nen, näm­lich das Wort (Logos). Ich den­ke, dies ist der Fall bei Dio­ny­sos, Apol­lo, Arte­mis, der himm­li­schen Aphro­di­te,Pro­me­theus, Pro­ser­pi­na und vie­len ande­ren. Ich glau­be auch, dass Hes­tia, Athe­ne und viel­leicht Hepha­es­tus Namen des Hei­li­gen Geis­tes sind. Hes­tia ist das Zen­tral­feu­er. Athe­ne kam aus dem Haupt des Zeus her­aus, nach­dem Zeus sei­ne Frau, die Weis­heit, geges­sen hat­te, die schwan­ger war; sie “geht also von Gott und sei­ner Weis­heit aus”. Ihr Attri­but ist der Oli­ven­baum, und Öl hat in den christ­li­chen Sakra­men­ten eine Affi­ni­tät zum Hei­li­gen Geist.

Und das­sel­be gilt für Pro­me­theus. Die Geschich­te des Pro­me­theus ist die Geschich­te Chris­ti, pro­ji­ziert in das Ewi­ge. Es fehlt nur noch der Ort in Zeit und Raum.

Chris­tus begann sein öffent­li­ches Leben, indem er Was­ser in Wein ver­wan­del­te. Er been­de­te es, indem er Wein in Blut ver­wan­del­te. Damit mar­kier­te er sei­ne Affi­ni­tät zu Dio­ny­sos. Auch mit den Wor­ten: “Ich bin der wah­re Wein­stock.”  Das Sprich­wort: “Wenn das Korn nicht stirbt” drückt sei­ne Ver­bun­den­heit mit den toten und auf­er­stan­de­nen Gott­hei­ten aus, die Vege­ta­ti­on als ihr Abbild hat­ten, wie Attis und Proserpina.

Alle Mut­ter­göt­tin­nen der Anti­ke, wie Deme­ter, Isis, waren Figu­ren der Jung­frau Maria.

Der ein­dring­li­che Ver­gleich des Kreu­zes mit einem Baum, der Kreu­zi­gung mit dem Hän­gen muss etwas mit Mytho­lo­gien zu tun haben, die inzwi­schen ver­schwun­den sind.

Das berühm­te Wort “der gro­ße Pan ist tot” soll­te viel­leicht nicht das Ver­schwin­den des Göt­zen­diens­tes ankün­di­gen, son­dern den Tod Chris­ti — Chris­tus ist der gro­ße Pan, das gro­ße Alles.

Er sag­te: “Ich bin gekom­men, um Feu­er auf die Erde zu wer­fen. Wie froh wäre ich, es wür­de schon bren­nen!” (Lk 12,49). Chris­tus zeig­te sei­ne Affi­ni­tät zu Prometheus.

Sein Wort “Ich bin der Weg” ist mit dem chi­ne­si­schen Tao zu ver­glei­chen, einem Wort, das einer­seits wört­lich den Weg und meta­pho­risch die Metho­de der Erlö­sung bedeu­tet, und ande­rer­seits den unper­sön­li­chen Gott, der der Gott der chi­ne­si­schen Spi­ri­tua­li­tät ist, der aber, obwohl unper­sön­lich, das Vor­bild der Wei­sen ist und kon­ti­nu­ier­lich handelt.

Sei­ne Wor­te: “Ich bin die Wahr­heit” las­sen an Osi­ris, den Herrn der Wahr­heit, denken.

Vie­le Geschich­ten aus Mytho­lo­gie und Folk­lo­re könn­ten in christ­li­che Wahr­hei­ten über­setzt wer­den, ohne etwas zu erzwin­gen oder zu verzerren.

Wann immer ein Mensch mit rei­nem Her­zen Osi­ris, Dio­ny­sos, Krish­na, Bud­dha, den Tao usw. anrief, ant­wor­te­te der Sohn Got­tes, indem er ihm den Hei­li­gen Geist sand­te. Und der Geist wirk­te auf sei­ne See­le, nicht indem er ihn dräng­te, sei­ne reli­giö­se Tra­di­ti­on auf­zu­ge­ben, son­dern indem er ihm das Licht — und im bes­ten Fall die Fül­le des Lichts — inner­halb die­ser Tra­di­ti­on gab.

Als Chris­tus sag­te: “Lehrt alle Völ­ker und bringt ihnen die Nach­richt”, befahl er, Nach­rich­ten zu brin­gen, nicht Theo­lo­gie.

Pater Cou­turiè­re hat auf den Brief nicht geant­wor­tet. Ich kann mir vor­stel­len, dass sich der Geist­li­che ein­fach mal ziem­lich lan­ge am Kopf gekratzt hat …
Zwar stellt Simo­ne Weil die Exis­tenz und die Bot­schaft von Jesus in kei­ner Wei­se in Fra­ge, aber sie stellt Zusam­men­hän­ge her, die ver­däch­tig nach dem “anathe­ma sit” der Kir­che riechen.

Auf die­se Gedan­ken Weils gibt es zwei Mög­lich­kei­ten zu reagieren:
a) Man weist sie ent­rüs­tet zurück mit dem Argu­ment, dass sie mit den kirch­li­chen Dog­men nicht ver­ein­bar sind.
b) Man fasst die Mög­lich­keit ins Auge, dass es zwi­schen Chris­ten­tum und vor­christ­li­chen Kul­ten mehr Brü­cken gibt, als es ein enges kirch­li­ches Dog­ma zuge­ste­hen möch­te, — oder anders for­mu­liert, dass für Simo­ne Weil der Gra­ben zwi­schen “Chris­ten­tum” und “Hei­den­tum” nicht so unüber­brück­bar war, wie es den Kirch­gän­gern ein­ge­trich­tert wur­de und noch wird.

In der nächs­ten Fol­ge wer­den wir uns noch mit ein paar wei­te­ren “häre­ti­schen” Aus­sa­gen Weils in ihrem Brief beschäf­ti­gen, und dies wie immer

am kom­men­den Sams­tag, den 31. Oktober

 

 

 

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