Die Essay-Samm­lung “Nature”, die Emer­son 1835 als 33-Jähriger ver­fasste, machte ihn schla­gar­tig ein­er grösseren Öffentlichkeit bekan­nt und wurde kon­tro­vers disku­tiert. Eine im Jan­u­ar 1837 veröf­fentlichte Rezen­sion kri­tisierte die Philoso­phien in “Nature” und beze­ich­nete die Überzeu­gun­gen abschätzig als “tran­szen­den­tal­is­tisch”. Der Begriff wurde zum Etikett der Philoso­phie Emer­sons und seines Freundeskreises.

Worum ging es darin? In dieser Samm­lung von Essays ver­trat er sein Beken­nt­nis, dass Men­schen in ein­fach­er Art und Weise und im Ein­klang mit der Natur leben soll­ten. In der Natur sah er die wahre Quelle der göt­tlichen Offen­barung. (…) Das Göt­tliche begriff Emer­son nicht länger als äußere oder höhere Macht, son­dern sah es als in den Men­schen selb­st hinein­ver­legt. Dabei entwick­elte er in Nature eine der Grund­fig­uren seines Denkens, die tran­szen­den­tal­is­tis­che Tri­ade, die Selb­st, Natur und Überseele (self, nature, Over­soul) umfasst. Emer­son zufolge ist die Überseele keine autonome, von der Welt der Erschei­n­un­gen abgelöste Instanz, son­dern hierin eben­so wirk­sam wie im men­schlichen Geist. Der Men­sch kann nach Emer­son daher sowohl durch Naturbeobach­tung wie auch durch Intro­spek­tion unmit­tel­bar am Göt­tlichen teil­haben (Wikipedia)

Dass Emer­son der Intro­spek­tion — der auf das eigene Bewusst­sein, die psy­chis­chen Vorgänge gerichtete Beobach­tung — eine grosse Bedeu­tung zumass, haben seine Gedanken zur Intu­ition deut­lich gemacht. Auf die Frage nach seinem religiösen Glauben antwortete er ein­mal: Ich bin eher ein Quäk­er als irgen­det­was anderes. Ich glaube an die “stille, kleine Stimme”, und diese Stimme ist Chris­tus in uns. 

Aber genau­so wichtig war für Emer­son eine innige seel­is­che Verbindung mit der Natur. Seine Ein­leitung zu den Essays begin­nt so:
Unser Zeital­ter ist ret­ro­spek­tiv. Es baut die Grab­denkmäler sein­er Väter. Es schreibt Biogra­phien, Geschichts­büch­er und Kri­tiken. Frühere Gen­er­a­tio­nen schaut­en Gott und Natur von Angesicht zu Angesicht; wir jedoch sehen nur mit ihren Augen. Warum soll­ten nicht auch wir uns ein­er ursprünglichen Beziehung zum Uni­ver­sum erfreuen? War um soll­ten wir nicht eine Dich­tung und Philoso­phie der Ein­sicht statt der bloßen Tra­di­tion haben und eine Reli­gion zu uns selb­st sprechen­der Offen­barun­gen anstelle ein­er Geschichte der Reli­gion unser­er Vorväter? Wenn uns nur ein einziges Mal die Natur umfan­gen hat, deren Lebens­fluten um und in uns pulsieren und uns durch die Kräfte, die sie spenden, zum naturgemäßen Han­deln ein­laden: Warum dann noch im Staub der Ver­gan­gen­heit wühlen, warum dann noch die lebende Gen­er­a­tion in den verblich­enen Masken und Kostü­men der Ver­gan­gen­heit auftreten lassen? Auch heute scheint die Sonne. …

Man hat diese Zeilen als typ­isch “amerikanisch” beze­ich­net, weil darin das Abschüt­teln Wollen europäis­ch­er Tra­di­tio­nen durch eine junge, auf­strebende Nation sicht­bar werde. Diese Ansicht hat ihre Berech­ti­gung, — und geht gle­ichzeit­ig am Wesentlichen vor­bei. Das wird deut­lich, wenn wir einen Blick in das erste Essay werfen:
Wer sich in die Ein­samkeit begeben will, muss sich aus sein­er Kam­mer eben­so wie aus der Gesellschaft zurückziehen. Ich bin nicht allein, solange ich lese und schreibe, obwohl nie­mand um mich ist. Wenn jemand die Ein­samkeit sucht, soll er die Sterne anschauen. Die Licht­strahlen, die von diesen himm­lis­chen Wel­ten kom­men, wer­den ihn loslösen von allem, wom­it er in Berührung ste­ht. Man möchte denken, die Atmo­sphäre sei deshalb durch­sichtig geschaf­fen wor­den, um dem Men­schen in den Him­mel­skör­pern den immer­währen­den Anblick des Erhabenen zu gewähren. Wie großar­tig sind die Sterne, wenn man von den Straßen der Städte zu ihnen auf­blickt! Wür­den die Sterne nur ein­mal in 1000 Jahren erscheinen, wie wären die Men­schen zu Glaube und Bewun­derung hin­geris­sen, wie wür­den sie über Gen­er­a­tio­nen hin­weg die Erin­nerung bewahren an jene Stadt Gottes, die ihnen erschienen ist! Doch Nacht für Nacht erscheinen diese Gesandten der Schön­heit und erleucht­en das Uni­ver­sum mit ihrem mah­nen­den Lächeln.

Hand auf’s Herz; Wann haben wir uns das let­zte Mal Zeit genom­men, die Ster­nen­pracht über uns zu bewun­dern? Auch wenn wir uns Zeit dafür nehmen woll­ten: Gar nicht so ein­fach, das nächtliche Him­mel­szelt in sein­er Pracht angesichts der heuti­gen nächtlichen “Lichtver­schmutzung” über­haupt zu Gesicht bekom­men. Aber wenn bei­des zutrifft, kann der nächtliche Him­mel zu ein­er tiefen Erfahrung wer­den. Dem birsfälder.li-Schreiberling ist bis heute eine solche Nacht in Erin­nerung geblieben, als er vor Jahrzehn­ten bei einem Feri­en­trip mit Fam­i­lie, Pferd und Wagen im som­mer­lichen Périg­ord im Schlaf­sack auf ein­er Wiese einen unfass­bar her­rlichen Ster­nen­him­mel mit vie­len Stern­schnup­pen bewun­derte und von ein­er tiefen Ehrfurcht erfasst wurde.

Emer­son ist sich bewusst, dass es für Erwach­sene nicht ein­fach ist, sich der Natur in Stille zu öff­nen: Um die Wahrheit zu sagen: Nur wenige erwach­sene Men­schen sind imstande, die Natur zu sehen. Die meis­ten sehen die Sonne nicht. Zumin­d­est haben sie nur eine sehr ober­fläch­liche Sicht von dieser. Die Sonne erhellt nur das Auge des Erwach­se­nen, doch sie scheint zugle­ich ins Auge und ins Herz des Kindes. Wer die Natur liebt, dessen innere und äußere Sinne ste­hen noch wahrhaft im Ein­klang miteinan­der; er hat sich den Geist der Kind­heit bis ins Erwach­se­nenal­ter erhal­ten. … Meine Freude gren­zt fast schon an Furcht. Auch in den Wäldern wirft der Men­sch seine Jahre von sich wie eine Schlange ihre Haut und ist, in welchem Alter auch immer, stets ein Kind. In den Wäldern ist immer­währende Jugend. In diesen Plan­ta­gen Gottes herrschen Anstand und Heiligkeit, vol­lzieht sich ein ständi­ges Fest, und der Gast ver­mag sich nicht vorzustellen, wie er selb­st in 1000 Jahren all dessen müde wer­den kön­nte. In den Wäldern kehren wir zur Ver­nun­ft und zum Glauben zurück. …

Wort­ge­waltig beschreibt Emer­son seine Erfahrung, wenn er sich der Natur öff­nen kann: Ich ste­he auf der nack­ten Erde, mein Haupt gebadet von san­ften Winden und erhoben in die Unendlichkeit des Raums, und alle niedrige Selb­st­sucht fällt von mir ab. Ich werde ganz zum durch­scheinen­den Auge; ich selb­st bin nichts und sehe doch alles; Ströme des allum­fassenden Seins durch­fluten mich; ich bin Teil oder Bestandteil Gottes. Der Name des eng­sten Fre­un­des klingt dann fremd und unwichtig: mit jeman­dem ver­wandt oder bekan­nt zu sein, Herr oder Diener, alles wird zur Neben­säch­lichkeit, ja zur Last. Ich bin nur noch Anbeter ein­er gren­zen­losen und unsterblichen Schön­heit. In der Wild­nis finde ich etwas, das mir teur­er und ver­wandter ist als die Dinge in den Straßen und Dör­fern. In der stillen Land­schaft und beson­ders in der fer­nen Lin­ie des Hor­i­zonts erblickt der Men­sch etwas, das der Schön­heit sein­er eige­nen Natur ver­gle­ich­bar ist.

Aber ihm ist auch die geheimnisvolle Beziehung zwis­chen Natur und men­schlich­er Seele bewusst: Die größte Freude, die Feld und Wald uns bere­it­en, ist die Andeu­tung ein­er dun­klen Beziehung  zwis­chen Men­sch und Pflanzen­welt. Ich bin nicht allein und unerkan­nt. Die Pflanzen nick­en mir zu und ich nicke zurück. … Doch ist sich­er, dass das Ver­mö­gen, solche Freude her­vorzubrin­gen, nicht in der Natur beschlossen liegt, son­dern im Men­schen oder in der Har­monie bei­der. … die Natur erscheint nicht immer im Fes­tk­leid; dieselbe Szene, die gestern noch Wohlgeruch atmete und glitzerte wie zum Spiel der Nymphen, ist heute in Schw­er­mut getaucht. Die Natur trägt immer die Far­ben des Geistes. Für den, der unter Not und Elend lei­det, hat selb­st die Wärme des eige­nen Kam­in­feuers etwas Trau­riges an sich. Und es gibt eine Art Ver­ach­tung für die Land­schaft, die jen­er fühlt, der ger­ade einen guten Fre­und durch Tod ver­loren hat.

Wir bleiben auch in der näch­sten Folge bei “Nature”, und dies wie immer

Sam­stag, den 8. Dezember

An anderen Serien interessiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hein­er Koech­lin / Simone Weil / Gus­tav Meyrink / Nar­rengeschicht­en / Bede Grif­fiths / Graf Cagliostro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­woche und Don­ald Trump / Die Welt­woche und der Kli­mawan­del / Die Welt­woche und der liebe Gott /Lebendi­ge Birs / Aus mein­er Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reich­sidee /Voge­sen / Aus mein­er Bücherk­iste / Ralph Wal­do Emerson

Kommen und Gehen
Wochenrückblick

Deine Meinung

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.