Gehe nicht, wohin der Weg füh­ren mag, son­dern dort­hin, wo kein Weg ist, und hin­ter­las­se eine Spur.
Ralph Wal­do Emerson

Wer vor­ge­ge­be­ne Wege ver­lässt, um eine eige­ne Spur zu hin­ter­las­sen, die ins Unbe­kann­te führt, braucht dazu eine gehö­ri­ge Por­ti­on Selbst­ver­trau­en. In sei­nem Essay “Ver­traue dir selbst! Ein Auf­ruf zur Selb­stän­dig­keit des Men­schen” ruft uns Emer­son zu, unse­rer eige­nen Wür­de bewusst zu wer­den, und illus­triert das am Bei­spiel der Hal­tung, die wir oft ange­sichts gros­ser Meis­ter­wer­ke einnehmen:
Dar­um soll der Mensch sei­nen Wert ken­nen und die Welt zu sei­nen Füßen nie­der­hal­ten; und in die­ser Welt, die für ihn da ist, nicht ängst­lich gucken, und sich her­um­steh­len und schlei­chen wie ein Bet­tel­knab’, oder ein Schleich­händ­ler, oder ein Findelkind.
Lei­der fühlt sich der Mensch in der Stra­ße, wenn er zu Tür­men und mar­mor­nen Göt­ter­bil­dern empor­blickt, gede­mü­tigt, weil er in sich kei­nen Wert fühlt, wel­cher der Kraft, die die­se geschaf­fen, ent­sprä­che. Paläs­te, Bild­säu­len und kost­ba­re Bücher sehen ihn fremd und gebie­te­risch an, unge­fähr wie eine prunk­vol­le Ein­rich­tung und schei­nen ihn wie die­se zu fra­gen: Wer sind Sie eigent­lich, mein Herr? Und doch sind sie alle sein, bit­ten ihn, sie zu bemer­ken, wen­den sich an sei­ne Fähig­kei­ten, sich her­vor­zube­mü­hen und von ihnen Besitz zu ergrei­fen. Jedes Bild war­tet auf mein Urteil; es hat mir nichts vor­zu­schrei­ben, ich bin es, der sei­nen Anspruch auf Lob oder Tadel fest­zu­stel­len hat.

Das belieb­te Mär­chen von dem betrun­ke­nen Bett­ler, der voll­ge­sof­fen in der Stra­ße auf­ge­packt, in das Haus des Her­zogs gebracht, daselbst gewa­schen und geklei­det, in des Her­zogs eige­nes Bett gelegt und beim Erwa­chen mit all der unter­tä­ni­gen Fei­er­lich­keit wie der Her­zog selbst behan­delt, und dem ver­si­chert wur­de, dass er bis­her wahn­sin­nig gewe­sen, ver­dankt sei­ne Volks­tüm­lich­keit dem Umstand, dass es den Zustand des Men­schen so wun­der­bar sym­bo­li­siert, der in der Welt wie ein Trun­ke­ner wan­delt und hier und da auf­wacht, zu kla­rer Besin­nung kommt und erkennt, dass er ein Fürst im volls­ten Sin­ne des Wor­tes ist.

Scheint da nicht eine Par­al­le­le auf zum Gleich­nis Jes­hua ben Josephs vom ver­lo­re­nen Sohn, der nach sei­ne Rück­kehr in das Haus sei­nes Vaters fest­lich emp­fan­gen und wie­der in alle Ehren gesetzt wird? Die kirch­li­che Theo­lo­gie hat die­se Rück­kehr all­zu­oft mit dem Hin­ter­sich­las­sen eines “sün­di­gen Lebens” gleich­ge­setzt. Emer­sons Über­le­gun­gen las­sen eine tie­fe­re Dimen­si­on die­ses Gleich­nis­ses auf­schei­nen: Es geht um die Rück­kehr zu unse­rem könig­li­chen Selbst, von Emer­son als “Ur-Selbst” bezeich­net. Aus ihm allein erwacht wah­re Selbstständigkeit:
Die magne­ti­sche Wir­kung, die alles selb­stän­di­ge Han­deln auf uns aus­übt, erklärt sich, sobald wir nach dem Grun­de des Selbst­ver­trau­ens for­schen. Wem traut man eigent­lich, wenn man sich selbst ver­traut? Was ist jenes Ur-Selbst, auf das ein all­ge­mei­nes Ver­trau­en und Welt­be­ru­hen gegrün­det wer­den kann? Wel­che Natur, wel­che Kraft besitzt jener Stern ohne Par­al­la­xe, ohne bere­chen­ba­re Ele­men­te, der aller Wis­sen­schaft spot­tet, und doch mit einem Strahl von Schön­heit selbst ganz gewöhn­li­che, ja unrei­ne Hand­lun­gen ver­klärt, sobald sich nur die gerings­te Spur von Unab­hän­gig­keit dar­in offenbart? 

Die For­schung führt uns zu jener Quel­le, die zugleich die Quint­essenz des Genies, der Sitt­lich­keit und des Lebens ist, die wir Ursprüng­lich­keit oder Instinkt nen­nen. Wir bezeich­nen die­ses pri­mä­re Wis­sen als Intui­ti­on, wäh­rend alle spä­te­re Erkennt­nis auf Beob­ach­tung und Beleh­rung beruht. Aus die­ser geheim­nis­vol­len Kraft, die­ser letz­ten Tat­sa­che, hin­ter die unse­re For­schung nie gelan­gen kann, neh­men alle Din­ge ihren gemein­sa­men Ursprung. Denn das Gefühl des Seins, das in unse­rer See­le, wir wis­sen nicht wie, in stil­len Stun­den auf­taucht, ist nicht unter­schie­den von Raum und Zeit, vom Licht, vom Men­schen und von den Din­gen, son­dern eins mit ihnen und strömt offen­bar aus der­sel­ben Quel­le, aus der auch ihr Leben und Dasein quillt.

Der Stel­len­wert der “Intui­ti­on” wird heu­te nicht gera­de hoch ange­setzt, — wenn sie über­haupt noch als mög­li­che Erkennt­nis­quel­le aner­kannt wird. Emer­son hin­ge­gen betrach­tet sie für unser Leben als ent­schei­dend wich­tig, weil durch sie der Ur-Grund allen Lebens zu uns spricht. Eine wahr­haft intui­ti­ve Erkennt­nis ist nicht mehr hin­ter­frag­bar: Sie ist.
Wir ruhen im Scho­ße eines unend­li­chen Geis­tes, der uns zu Gefä­ßen sei­ner Wahr­heit und Werk­zeu­gen sei­ner Tätig­keit macht. Wenn wir etwas als recht, als wahr erken­nen, dann han­deln nicht wir, son­dern wir gewäh­ren nur sei­nen Strah­len den Durch­gang. Wenn wir fra­gen, woher dies kommt, wenn wir nach der Ur-See­le, die der letz­te Grund der Din­ge ist, spä­hen, erweist alle Phi­lo­so­phie sich ohn­mäch­tig. Ihr Dasein oder Nicht­da­sein ist alles, was wir bestä­ti­gen kön­nen. Jeder Mann unter­schei­det zwi­schen den will­kür­li­chen Hand­lun­gen sei­nes Geis­tes und sei­nen unwill­kür­li­chen Wahr­neh­mun­gen, und weiß, dass die letz­te­ren den voll­kom­mens­ten Glau­ben ver­die­nen. Man kann in der Wie­der­ga­be der­sel­ben irren, aber jeder weiß, dass sie unbe­streit­bar sind wie Tag und Nacht. Mei­ne will­kür­li­chen Hand­lun­gen und Erler­nun­gen sind höchst unsi­cher; – aber die müßigs­te Träu­me­rei, die lei­ses­te ursprüng­li­che Regung macht mich auf­merk­sam und neugierig.

Da Emer­son der Intui­ti­on als Grund­la­ge für ein selbst­be­stimm­tes und selb­stän­di­ges Leben eine solch emi­nen­te Rol­le zuweist, dürf­te es sinn­voll sein, sich mit die­sem Begriff etwas ver­tief­ter aus­ein­an­der­zu­set­zen. Genau das tun wir in der nächs­ten Folge

am Sams­tag, den 18. Dezember.

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