Während der Narr im Mittelalter und in der frühen Neuzeit sowohl auf geistlicher als auch auf weltlicher Ebene eine zwar manchmal höchst subversive, aber doch grundsätzlich positive Rolle spielte, spannten ihn die Humanisten des 15. Jhdts für ihre Zwecke auf eine Weise ein, die seinen Charakter radikal veränderten: Er wurde bei ihnen zum Symbol der Dummheit, Scheinheiligkeit und aller schlechten Charaktereigenschaften — kurz aller menschlichem “Narrheit”.
Entscheidend für diesen radikalen Imagewechsel war ein europäischer Bestseller des frühen Buchdrucks, erstmals gedruckt in Basel und in deutscher Sprache, aber schon bald übersetzt ins Lateinische, Französische, Englische und Niederländische:
“Das Narrenschiff” von Sebastian Brant.
Sebastian Brant wurde in der freien Reichsstadt Strassburg geboren, studierte ab 1475 an der Universität der freien Reichsstadt Basel die Rechte und machte dort rasch Karriere: 1484 stieg er in den erlauchten Kreis der Professoren auf, wurde auch Dekan der Universität, betätigte sich aber auch als Advokat und Richter. 1501 zog es ihn zurück in seine Heimatstadt, wo er zum Stadtschreiber und Kanzler ernannt wurde und es bis zu seinem Tod 1521 auch blieb.
“Das Narrenschiff” erschien 1494 in seiner Basler Zeit. Worum geht es darin?
Es handelt sich um eine spätmittelalterliche Moralsatire, die eine Typologie von über 100 Narren bei einer Schifffahrt mit Kurs auf das fiktive Land Narragonien entwirft und so der Welt durch eine unterhaltsame Schilderung ihrer Laster und Eigenheiten kritisch und satirisch den Spiegel vorhält. … Das Buch gliedert sich in eine vorred und 112 Kapitel, die in den meisten Fällen jeweils ein typisches menschliches Fehlverhalten oder Laster beschreiben und als Auswuchs närrischer Unvernunft präsentieren, so z. B. Habsucht, Kleidermoden, Schwätzerei oder Ehebruch, auch vor der Einnahme Konstantinopels durch das Osmanische Reich und dem nahen Weltende wird gewarnt; Regierende bekommen gute Ratschläge, und ein neuer Heiliger namens St. Grobian führt sich wie ein Flegel auf. Das Schlusskapitel stellt diesem Reigen von Narren den Weisen als Ideal vernünftiger Lebenshaltung gegenüber und klingt im Schlussreim mit dem Namen des Autors aus. (Wikipedia)
Ein gewichtiger Grund für den grossen Erfolg des Buches sind sicher die die Sprüche begleitenden Holzschnitte, die wahrscheinlich zu einem guten Teil vom jungen Albrecht Dürer stammen, der sich damals auf seiner beruflichen Wanderschaft in Basel aufhielt. Schauen wir uns doch zwei Beispiele in der Erstausgabe an (mit einer Übersetzung in aktuelles Deutsch):
Bedenkst du dich erst nach der That,
So kommt dein Anschlag meist zu spat,
Wer zeitig guten Anschlag kann,
Der heisst mir ein erfahnerer Mann,
Er lernt’ es sicher von den Frauen;
Ja, ihrer Vorsicht darf man trauen!
Hätt Adam sich bedacht voraus,
Ich meine vor dem Apfelschmaus,
Man hätt ihn nicht um einen Biss
Verstossen aus dem Paradies …
— womit bewiesen ist, dass Brant eindeutig ein Krypto-Feminist war 😉
Als wäre er nur dazu geboren
Dass viel Weines geh durch ihn verloren,
Wenn er stäts als eine Maifrost pfiffe:
Wohl gehört der auch zum Narrenschiffe,
Denn er zerstört Vernunft und Sinne
Und wird es vor dem Alter inne,
Wenn früh im schlottern Kopf und Hände;
Er bringt sich an ein vorschnell Ende.
Ein gefährlich Ding ists um den Wein:
Unlange mag er weise sein,
Wem Saufen einzig Freude macht.
Ein trunkner Mensch hat Niemands Acht,
und weiss nicht Ziel und Ende mehr.
Unkeusche kommt vom Saufen her;
Noch sonst viel Uebels draus entspringt.
Ein Weiser ist wer sittig trinkt .…
Kleiner Exkurs abseits der Narrheit: Sebastian Brant war auch sonst ein äusserst aktiver und umtriebiger Autor, wie seine weiteren Dichtungen, Chroniken, Spruchsammlungen und geistlichen Texte beweisen. Als höchst wacher Zeitgenosse verfasste er regelmässig Flugblätter zu aktuellen politischen, aber auch naturkundlichen Themen, z.B. über den “Donnerstein”, einen Meteoriteneinschlag bei Ensisheim am 7. November 1492, der sogar die Aufmerksamkeit Kaiser Maximilians I. erregte:
Drij zentner schwer fiel dieser stein / Hie in dem feld vor Ensissheim.
Wer sich die wechselvolle Geschichte dieses 130 kg schweren Meteoriten über die Jahrhunderte hinweg zu Gemüte führen möchte, findet hier eine höchst anregende Erzählung dazu.
In der nächsten Folge am 17. April bleiben wir in Basel, denn der wohl berühmteste Humanist, dem es in der freien Reichsstadt offensichtlich auch gefiel, liess es sich ebenfalls nicht nehmen, sich mit der “menschlichen Narrheit” auseinanderzusetzen. Wer im Geschichtsunterricht etwas aufpasste, weiss natürlich, um wen es sich handelt …
Kästli
Apr 10, 2021
Immer ein Gewinn — solche Narrengeschichten
vielen Dank.
max feurer
Apr 10, 2021
Danke für das Dankeschön. Spornt an, weiterzumachen 🙂