Der rote Faden, der das Werk de Costers vor dem historischen Hintergrund des niederländischen Befreiungskampfs durchzieht, ist die Auseinandersetzung zwischen der radikalen Verneinung eines freiheitlichen Lebens und der unbedingten Lebensbejahung. Diese wird durch Ulenspiegel verkörpert, jene durch die autokratische und mörderische monarchische Gewalt:
Als der Kaiser (Karl V.)vom Krieg zurückkehrte, fragte er, warum sein Sohn Philipp nicht käme, um ihn zu begrüßen. Der Erzbischof, dem die Erziehung des Infanten oblag, antwortete, daß dieser nicht kommen wollte, da er, wie er sagte, nichts anderes liebe als Bücher und die Einsamkeit. Der Kaiser erkundigte sich danach, wo er sich im Augenblick aufhalte. Der Erzieher erwiderte, daß er ihn überall suchen müsse, wo es finster wäre. Und so geschah’s.
Nachdem die Suchenden eine Reihe von Sälen durcheilt hatten, kamen sie in eine Art dielenlosen Kellergelasses, das von einem Dachfenster erhellt wurde. Da sahen sie ein niedliches, kleines Äffchen, das Seiner Hoheit aus Indien geschickt worden war, um sie durch seine fröhlichen Possen zu ergötzen, und das nun um die Mitte an einen in den Boden gerammten Pfahl gebunden war. Um den Pfahl herum lag noch glühendes Reisig, und das Gelaß war von dem widerlichen Geruch verbrannten Tierhaares erfüllt. Das Tierchen hatte unter dem Feuertod so gelitten, daß sein kleiner Körper nicht mehr dem eines Wesens glich, das gelebt hatte, sondern eher einer runzligen und verkrüppelten Wurzel; an seinem Mund, der geöffnet war, als hätte es nach dem Tod gerufen, sah man blutigen Schaum, und sein Gesicht war von Tränen benetzt.
»Wer hat das getan?« fragte der Kaiser. Der Erzieher wagte nicht zu antworten, und beide verharrten traurig und zornig in Stillschweigen. Plötzlich hörte man in dieser Stille ein schwaches Husten, das aus einer Ecke im Schatten hinter den beiden kam. Seine Majestät wandte sich um und gewahrte den Infanten Philipp, der ganz schwarz gekleidet war und an einer Zitrone saugte. … Seine Majestät riß ihm die Zitrone aus der Hand, schleuderte sie zur Erde und schlug ihn, der sich vor Angst bepißte, doch der Erzbischof hielt den Kaiser zurück und sagte ihm ins Ohr: »Seine Hoheit wird eines Tages ein großer Verbrenner der Häretiker werden.«
De Coster dürfte hier von seiner dichterischen Freiheit Gebrauch gemacht haben. Dass Philipp II. aber tatsächlich ein menschenscheuer religiöser Fanatiker war, steht ausser Frage:
Als Monarch lag Philipps Hauptaugenmerk auf der Wahrung seiner königlichen Autorität sowie der Aufrechterhaltung des traditionellen Systems, er dachte und handelte konservativ. Er zeigte ein teilweise grausames, unerbittliches Verhalten gegenüber Abtrünnigen, bestrafte Einzelne hart, aber auch ganze Städte oder Regionen, die Widerstand gegen die königliche Autorität zeigten.
Philipp war ein religiöser Ekstatiker und fanatischer Katholik, für den die Religion über allen anderen Dingen stand. („Bevor ich zulasse, dass der Religion und dem Dienst an Gott der kleinste Schaden zugefügt wird, möchte ich lieber alle meine Länder verlieren und hundert Leben, wenn ich sie besäße“.). Er sah sich selbst als ein Werkzeug der göttlichen Vorsehung. Deshalb machte er sich zum Schutzherrn der katholischen Gegenreformation und war überzeugt, die spanische Monarchie sei dazu ausersehen, die Menschheit vor jeder Form von Ketzerei und Abtrünnigkeit zu schützen, weshalb Philipp jegliches Zugeständnis vermied. Im totalitären Anspruch auf Monokonfessionalität sah er die wichtigste Grundlage seiner Herrschaft, … Als Erbe der „Katholischen Könige“ (Isabella I. und Ferdinand II.) war Philipp ein Verfechter der Inquisition, die bei der religiösen Gleichschaltung eine entscheidende Rolle spielte. Ihre strengen Gesetze, Repressionen und die gewaltsame Verfolgung von Häretikern, Ketzern, Protestanten, Juden, Muslimen und zwangsweise Bekehrten (Morisken) wurde unter Philipp zunehmend auch auf politische Feinde ausgeweitet.
Deshalb könnte die folgende Schilderung durchaus zutreffen, denn De Coster hatte für seine geschichtlichen Recherchen alle Zeit der Welt. Ulenspiegel hatte es gewagt, öffentlich zu behaupten, dass Totenmessen niemanden nützten ausser dem Klerus. Daraufhin landete er im Kerker und wurde anschliessend zu drei Jahren Exil in Form einer Pilgerfahrt nach Rom verurteilt. Auf seiner Wanderung lernte er die Schrecken der Inquisition kennen:
Damals erhoben die Inquisitoren und Theologen zum zweitenmal vor dem Kaiser folgende Vorstellungen: die Kirche gehe zugrunde, ihre Autorität würde verachtet, sie wäre es, deren Gebeten er die vielen glänzenden Siege, die er erfochten habe, verdanke, sie, welche die Macht seines königlichen Thrones aufrechterhielte.
Ein spanischer Bischof bat ihn, sechstausend Köpfe abschlagen oder ebensoviel Körper verbrennen zu lassen, um die böse
lutherische Ketzerei aus den Niederlanden auszurotten. Seine heilige Majestät urteilte, daß das nicht genüge.
Wohin der arme Ulenspiegel auch kam, überall wurde er von Schrecken erfaßt, denn er bekam nichts andres zu sehen als auf Pfähle gespießte Köpfe und junge Mädchen, die man in einen Sack gesteckt und lebend in einen Fluß geworfen hatte, Männer, die nackt auf dem Rade lagen und mit eisernen Stangen unbarmherzig geschlagen wurden, Frauen, die man in eine Grube warf und mit Erde überschüttete und auf deren Brüsten der Henker tanzte, um sie zu zermalmen. Aber die Beichtiger der Frauen und Männer, die sich vor dem Tod hatten bekehren lassen, verdienten an jeder geretteten Seele zwölf Kreuzer.
In Löwen sah er, wie die Henker dreißig Lutheraner auf einmal verbrannten, indem sie den Scheiterhaufen mit Kanonenpulver in Brand setzten. In Limburg sah er eine ganze Familie, Männer und Frauen, Töchter und Schwiegersöhne, Psalmen singend zur Marter schreiten. Der Älteste schrie, als er brannte. Und Ulenspiegel durchwanderte, von Angst und Seelenschmerz erfüllt, das arme Land.
(Die Holzschnitte stammen vom berühmten Illustrator des Ulenspiegel, Franz Masereel).
Doch Ulenspiegel wäre nicht Ulenspiegel gewesen, wenn seine Lebenslust und sein Freiheitsdrang nicht immer wieder obsiegt hätte. Deshalb wenden wir uns in der nächsten Folge am 22. Mai wieder ein paar seiner legendären Streiche zu.