Wäre der Blick der Europäer derselbe wie der von Neil Armstrong, der 1969 vom Mond aus unseren Planeten sah, dann würde uns endlich bewusst, wie klein und nichtig Europa auf der Welt ist. Armstrong sah, was durch die Globalisierung voran getrieben wird, einen einzigen Planeten- und er hätte, wäre es darauf angekommen, bestimmt auch Europas Marginalisierung gesehen.
Die Vereinigten Staaten von Europa – heute sind sie unattraktiver denn je, weil der Blick der Älteren nur den Einheitsbrei, nicht aber die Verschiedenheit in Europa sieht. Dieser Blick ist geprägt von der Angst vor dem Verlust des Eigenen, Typischen, Charakteristischen. Er sieht nicht, wie es beispielsweise bei der Gründung der Vereinigten Staaten der Fall war, dass man das Verschiedene unter einer Staatsverfassung zusammenfassen und dennoch bewahren kann. Es ist dieser Blick der Älteren, der von den Kriegen, dem Nationaldenken und dem Eigenbrötlerischen geprägt wurde, der Europa verhindert.
Die EU scheitert aber auch daran, dass sie nur ökonomisch definiert wurde – und selbst in ihrer Erweiterung ein ökonomisches Projekt blieb.
Gerade wurde bei der Fussball-Europameisterschaft Europa in seinen unterschiedlichen Gebräuchen und seiner unterschiedlichen Art, Fussball zu spielen, sichtbar. Ein Kontinent, auf dem jedes Land seine eigenen Feste feiert, seinen eigenen Käse isst, seinen eigenen Wein trinkt und selbst die Liebe auf eine landesspezifische Art gehandhabt wird. In dem jedes Land seine eigene gefärbte Sprache spricht, anders mit den Zugewanderten umgeht und andere Festtage pflegt. Länder ohne Migration, in denen alle gleich heissen, Länder, in welchen alle Namen fremdländisch klingen und doch dazugehören.
Die Politik der EU hat diese Vielfalt im Bewusstsein der Älteren offenbar mehr gefährdet als geschützt. Haben die Brüsseler genug für das Bewusstsein der Vielfalt getan, haben sie die Unterschiede in Erinnerung gerufen und gepflegt, oder haben sie nur schnöde vereinheitlicht, was sich am Lohnendsten vereinheitlichen liess? Die «Pflege» des Eigenen haben nun europaweit die Rechtspopulisten übernommen. Und was von den Brüsseler Vereinheitlichungsbemühungen noch ausgenommen bleibt, wird von der Globalisierung erfasst, die eine ebenso einseitig ökonomische Ausrichtung hat.
Dabei hält sich die Klimaerwärmung mit ihren Überschwemmungen und verschobenen Sommern nicht an Landesgrenzen; dabei werden weltweit Nahrungsmittel herumgeschifft, die dann als «einheimisch» in den Regalen unserer Supermärkte landen; dabei wurde die Globalisierung bereits 1492 mit Kolumbus’ Einfall in die Neue Welt begonnen.
Wie kann man das Eigene in der Vielheit pflegen? Eine Identitätspolitik, die das Andere als dem Eigenen feindlich entgegensetzt, wird im Grossen wie im Kleinen nichts zusammenbringen, sondern nur das Eine vom Anderen ausschliessen. Da Abstimmungen heute mehr einer Stimmung als Fakten folgen, muss das Bewusstsein für europäische Andersartigkeiten geweckt werden. Der Einführung des Euro hätte die Einführung europäischer Filmfestspiele folgen müssen. Neben der Europäischen Zentralbank müsste es ein europäisches Literaturfestival geben, mit einer Unzahl an Übersetzern. Denn übersetzen heisst, eine Fremdsprache ins Eigene zu retten, ohne das Fremde daran zu verlieren. Goethes Traum von einer Weltliteratur! Dass Europa, ausgegangen von den griechisch-mittelmeerischen Mythen, ein einziger in sich verschiedener Bildungsraum sein müsste, mit freiem Zugang für alle Studierenden zu allen Universitäten, sollte sich von selbst verstehen.
Europa aber wurde in Brüssel verspielt.
Denn eigentlich fehlt uns Europäern (auch wenn wir Schweizer nicht in der EU sind gehören wir zu Europa) weder der gemeinsame Blick noch die gemeinsame Geschichte. Einmal ist die Aufklärung das grosse europäische Projekt. Dazu kommt die Bibel als Geschichtenbuch, auch der Koran ist zu Zeiten der Kalifen von Cordoba und Sevilla zu Europa gekommen. Anders als Japan, das jahrhundertelang hermetisch abgeschlossen wurde, gibt es kein Europa der Grenzen, sondern nur der Durch- und Übergänge.
Europa ist ein Buch, in dem jede Nation ein Kapitel schreibt.
Die Schweiz ist dabei, immer mehr zu einer Insel zu werden, auf der die Züge nur noch von Zürich nach Wädenswil, von Basel nach Birsfelden und von Bern nach Bümpliz fahren. Gerade die Schweiz aber wäre ein Modell für eine Einheit in der Vielfalt. Im Ernst wird niemand behaupten, dass das Tessin oder das Welschland unschweizerisch wären. Der Traum der Separation aber ist nichts anderes als missverstandene Regionalität; soll die Region ihre Farbe ins Ganze einbringen, muss sie ihre Begrenztheit anerkennen, anders landen wir im Mittelalter, in dem Europa aus zighunderten von Einzelstaaten bestand.
Standen wir nicht alle einmal als Kinder im Bahnhof und haben uns die Augen gerieben, wenn wir auf den Anzeigetafeln «Milano Central», «Amsterdam Centraal» oder «Bruxelles Midi» gelesen haben? Oder wenn da «Paris Gare de l’Est» stand und wir voller Sehnsucht dem Nachtzug nach Moskau nachschauten. Aber das war damals, als die Reise nach Europa noch eine Sehnsucht war.
Martin R. Dean, geboren in Menziken als Sohn eines Trinidaders indischer Herkunft und einer Schweizerin, lebt und arbeitet als Schriftsteller und Publizist in Basel. Zuletzt erschienen: Das falsche Quartett. Roman. Verbeugung vor Spiegeln. Essays (beide Jung und Jung Verlag).
Der Text wurde uns unentgeltlich vom Netzwerk »Kunst+Politik« zur Verfügung gestellt. Alle Texte zum Thema »Nach Europa« sind hier zu finden. Das Titelbild ist von Ruedi Widmer.