Gustav Meyrink hatte zu Lebzeiten neben vielen Bewunderern und nebst Feinden auch Kritiker, die sein literarisches Werk als reisserisch, trivial oder schlicht unverständlich abtaten. Frans Smit schreibt in seiner Biografie “Gustav Meyrink. Auf der Suche nach dem Übersinnlichen”:
Es vollzog sich eine Scheidung der Geister. Viele Kritiker und Schriftstellerkollegen wandten sich von ihm ab, teilweise mit Hilfe uneigentlicher Argumente (zum Beispiel: wahre, grosse Kunst verkauft sich niemals gut), teilweise, indem sie öffentlich bekannten, sie könnten oder wollten ihm auf seinem okkulten Weg nicht folgen. Auf der anderen Seite wurde Meyrink von Psychologen (Jung) und Okkultisten allen möglichen Schlages entdeckt. Während beim Erscheinen jedes neuen Romans das grosse Lesepublikum immer mehr abbröckelte, blieb ein kleiner Kreis entschiedener Bewunderer übrig …
Dass die Faszination für sein Werk für viele Menschen aber bis heute ungebrochen ist, zeigt sich an den vielen Neuauflagen — gerade in den letzten Jahren.
Herrmann Hesse, seinerseits ein literarischer Dauerbrenner, hat sicher recht, wenn er schreibt:
Es ist weder die “Phantasie” noch die Geschicklichkeit dieses Dichters, die so stark wirkt. Es ist seine Persönlichkeit … Die Wirkung seiner Bücher … beruht also nicht auf etwas Totem, auf einer Berechnung, sondern auf etwas höchst Lebendigem. Sie ist echt. Nicht bloss die feinen vergeistigten Figuren, nicht bloss die abgeklärten Worte mystischer Erkenntnis sind echt; echt sind auch die Roheiten und Bissigkeiten, der tiefe, böse Hohn, die Freude am Grellen und Knalligen … dahinter steht einer, der uns schon darum etwas Ernstes zu sagen hat, weil er den Mut zu sich selber hat. Und nichts haben wir nötiger als diesen Mut.
Frans Smit trifft mit seiner Analyse ins Schwarze, wenn er schreibt, dass die zwei Hauptthemen in Meyrinks Oeuvre das “Wachsein” und die Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips in der “heiligen Hochzeit” sei. Beides sind Ziele, die für die Menschheit noch nie so wichtig waren wie gerade heute. Seine Romane sind eigentliche “Aufwecker”, weshalb es nur folgerichtig war, dass 1933 seine Bücher in Deutschland wegen “weltanschaulicher Schädlichkeit” verboten und verbrannt wurden.
Der letzte Satz in “Das Grüne Gesicht” lautet:
Wie eine Januskopf konnte Hauberisser in die jenseitige Welt und zugleich in die irdische Welt hineinblicken und ihre Einzelheiten und Dinge klar unterscheiden:
er war hüben und drüben
ein lebendiger Mensch.
Das war ohne Zweifel das Ziel, dem Gustav Meyrink sein ganzes Leben unterordnete.
Wie dieses Leben und sein Werk schliesslich ineinander zu fliessen begannen, zeigt sich auf eindrückliche Weise an einer Erfahrung, die Meyrink nach dem die ganze Familie zutiefst erschütternden Selbstmord des Sohnes machte (Harro litt nach einem Skiunfall an Lähmungen und monatelangen unerträglichen Schmerzen). Meyrink schrieb an einen Freund:
… Am nächsten Morgen wusste ich plötzlich, ich müsse seinen Hut aufsetzen, so wie im “Golem” der Pernath den anderen Hut aufsetzt. Ich tat es mit der Vorstellung: jetzt bin ich gewissermassen sein Sohn und er ist ich …
Dann kam plötzlich eine heisse Eingebung: bete mit aller Inbrunst zur Allmutter ISIS, der ägyptischen Göttermutter, von der es heisst, sie achtet weder irdische noch himmlische Gesetze, sie sieht nicht recht und nicht unrecht. Mit ihrer Liebe zerbricht sie jedes starre Gesetz, jedes Karma und alles.
Und da habe ich das Gesicht nach Ägypten gewendet, innerlich geschrieen: Allmutter Isis, tu ein Wunder, ein unbegreifliches Wunder für meinen Sohn und meine Tochter, die Schwester meines Sohnes! Ich will nicht wissen, wie dieses Wunder sein wird und wenn ich dadurch zerschmettert werden sollte, es ist mir gleich, nur tu ein Wunder!
Und das Wunder hat auch bald eingesetzt, es ist noch lange nicht zu Ende, es geht immer weiter. Eine solche Flut von ungeheurem Wissen und von Erkenntnis ist mit einemmal über mich hereingebrochen, dass ich mich selbst gegen gestern nicht mehr wiedererkenne. Es ist als sei mein gestriger Mensch gestorben und ein neuer Mensch auferstanden. Die Trauer um meinen Sohn ist spurlos fort. … Ein Glücksgefühl, von dem ich früher nichts geahnt habe, dass es so etwas überhaupt geben könnte …
Diese kleine Meyrink-Serie begann mit seinem Tod, und sie endet mit seinem Tod. Einer seiner Freunde, Albert Talhoff, erzählt:
Es ist Meyrinks letzte Nacht. Er hat solche Schmerzen, dass der Arzt Frau Meyrink rät, ein von ihm mitgebrachtes narkotisches Mittel in den Tee zu tun, den Meyrink als einzige Labung noch zu sich nahm. Meyrink fühlte diese Absicht sofort und sagte: “Ich habe nur noch eine Bitte an euch, mich in meinem Sterben nicht zu stören. Gebt mir keine Narkotika.”
Er wollte den Tod “erleben”, ihn nüchtern bis zum letzten Atemzug erfahren.
…
Da fühlte er den Tod auf sich zukommen. Er wusste: jetzt muss sich die Frage meines ganzen Lebens lösen. Er raffte seine ganze geistige Kraft zusammen, um diesen Prozess bis zu Ende “zu kontrollieren”. Aber da brach ihm plötzlich eine Erscheinung auf. Er rief seine Tochter (an der er sehr hing) und sagte ihr: “Sterben ist schwer. Der Tod ist das Vergänglichste des Lebens. Aber sieh, es gibt nur einen Gott: Christus!”
Wie Isis und Christus zusammenpassen? Das ist eine andere Geschichte …
Am nächsten Samstag beginnt ein Ausflug in die europäische Kulturgeschichte ganz besonderer Art — mit ein paar Abstechern in die grosse weite Welt. Auch Basel findet darin seinen Platz. Mehr darüber am 6. März!