1921 publizierte Meyrink “Der Weisse Dominikaner”, wegen Streitigkeiten mit dem Kurt Wolff-Verlag neu im Rikola-Verlag. Diesmal spielt die Geschichte weder in Prag noch in Amsterdam, sondern in einem kleinen Städtchen, das man aufgrund der Beschreibung unschwer als Wasserburg am Inn erkennen kann.
Der Held des Romans, Christopher Taubenschlag — auch Christl genannt, analog zu Gustl, Wie Mena Meyrink ihren Mann rief -, ein eehter Christ, bei dem die weissen Tauben aus und einfliegen, ist ein von seiner Mutter ausgesetztes Findelkind, das vor der Tür der Marienkirche gefunden und von einem Baron adoptiert wird. Meyrink, der vaterlos aufwuchs und von seiner Mutter, die ihm fremd blieb, in Prag zurückgelassen wurde, konnte sich im übertragenen Sinn ebenfalls als ausgesetzt empfinden, bis ihm an Maria Himmelfahrt der geheimnisvolle Lotse begegnete, der ihn, vielfach in nächtIichen Traumgesichten, durch sein weiteres Leben geleitete und ihm die Aufgabe stellte. Herr zu werden „über das Geschick“, nämlich den Zwängen und Beschränkungen des Körperlichen zu entfliehen und vollkommen zu werden.
Christopher sieht, Körper und Tod entronnen, im Schlaf die geistige Welt, geführt von Träumen, erlebt sein ganz von der Aussenwelt abgeschlossenes Reifen, das an die bewusst herbeigeführten Phasen ohne Postverbindung in Meyrinks Lehen erinnert, erkennt Lehren, die im Blick auf das „Kreuz der Persönlichkeit“ Selbstverzicht und die Aufgabe der Individualität fordern, als Irrweg,und als einzig vollbringenswerte Tat „die Arbeit am eigenen Selbst“, die das ‚.Verwesliche“ vernichtet und „den Tod in eine Flamme des Lebens verwandelt.” (Herbert Binder)
Wie schon im “Golem” und der “Walpurgisnacht” steht auch hier eine Liebesgeschichte im Zentrum. Aber im Gegensatz zu Athanasius Pernath, der mit seiner Miriam im Palast am Ende des Goldmachergässleins auf ewig vereint ist, verliert Christopher seine Ophelia, die in ihrer Verzweiflung wegen ihrer komplexen Familiengeschichte “ins Wasser gegangen ist”. Doch er findet Aufnahme in die Kette einer Bruderschaft jenseits von Zeit und Raum:
“Ich breite die Arme aus: unsichtbare Hände fassen die meinen mit dem “Griff” des Ordens, gliedern mich ein in die lebendige Kette, die in die Unendlichkeit reicht. Verbrannt ist in mir das Verwesliche, durch den Tod in eine Flamme des Lebens verwandelt.”
Wer sich angesprochen fühlt, findet den Roman als PDF hier.
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1927 erschien der letzte grosse Roman, “Der Engel vom westlichen Fenster”. Doch heute ist klar, dass die Hauptarbeit für dessen Entstehung nicht bei Meyrink, sondern bei seinem Freund Friedrich Alfred Schmied Noerr lag, einem Kultur- und Religionsphilosophen, der ebenfalls in Starnberg lebte. Meyrink scheint neben der Beratung vor allem die Schlussredaktion übernommen zu haben. Offensichtlich beschlossen die beiden, die Geschichte aus Publizitätsgründen nur unter Meyrinks Namen herauszugeben, sich aber den Ertrag zu teilen.
Trotzdem enthält das Werk alle Ingredienzien, welche die Romane Meyrinks auszeichnen: Die langsame Verwandlung der Heldinnen und Helden durch Tod, Dunkelheit und Irrwege hindurch in eine neue seelische Ganzheit, die ihre Wurzeln jenseits von Raum und Zeit im göttlichen Urgrund hat.
Diesmal stehen im Zentrum John Dee und ein Nachkomme, in dessen Hände die Tagebücher Dees fallen. Dee war einer der grössten Gelehrten des 16. Jahrhunderts und enger Berater der englischen Königin Elisabeth I. Als Mathematiker, Astronom und Geograph verfügte er über die grösste Bibliothek Englands und legte dank neuer Navigationsinstrumente und ‑techniken die Grundlage für den Aufstieg Englands als “Herrscherin der Meere”.
Berühmt geblieben ist er allerdings durch seine alchemistischen und magisch-spirituellen Experimente, mit denen er Kontakt mit den Welten der Engel zu erreichen versuchte. In einschlägigen Kreisen hat die von ihm entdeckte Henochische Sprache auch heute noch grosse Bedeutung.
Es ist völlig unmöglich, hier auch nur in Ansätzen auf die komplexe Handlung einzugehen. Als kleine Kostprobe können Interessierte hier die Schilderung des Besuchs Dees und seines Assistenten Kelley bei Kaiser Rudolf II. in Prag und die Begegnung Dees mit dem Rabbi Löw herunterladen. Dee und Kelley hielten sich tatsächlich anlässlich einer längeren Europareise am Hofe des an Alchimie interessierten Kaisers auf, der bekanntlich auch Mäzen und Förderer von solch illustren Gelehrten wie Giordano Bruno, Tycho Brahe und Johannes Kepler war.
Wer sich an den Roman wagen will, findet ihn hier im PDF-Format, und wer sich zutraut, sich mit dessen alchemistischer Symbolik auseinanderzusetzen, kann sich in diesen Dissertationsauszug von Eva Markvartová vertiefen.
Lassen wir zum Schluss den Nachkommen Dees, Baron Müller, wenigstens mit einem kleinen Zitat zu Wort kommen:
Wer wir sind, wir Menschen, wissen wir nicht. Wir sind uns nur selber gegenwärtig und Gegenstand unserer Erfahrung in der gewissen „Verpackung“, die uns aus einem Spiegel entgegenschaut und die wir unsere Person zu nennen belieben. Oh, wie beruhigt sind wir, wenn wir nur das Paket kennen mit der Aufschrift darauf: Absender: die Eltern; Empfänger: das Grab; Paketsendung aus „Unbekannt“ nach „Unbekannt“, mit verschiedenem Postvermerk, als „Wertsendung“ deklariert, oder als … „Muster ohne Wert“, je nachdem – je nach der Meinung unserer Eitelkeit.
Kurz: was wissen wir Pakete von dem Inhalt der Sendung?
Mit einem Epilog am kommenden Samstag, den 27. Februar, schliesst die kleine Meyrink-Saga.
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