Zwei Jah­re nach dem Gross­erfolg “Der Golem” ver­öf­fent­lich­te Mey­rink sei­nen zwei­ten Roman, “Das Grü­ne Gesicht”. Da wir nicht wei­ter auf ihn ein­tre­ten, hier wenigs­tens eine klei­ne Rezension:
Der Schau­platz ist Ams­ter­dam in der Zeit nach dem ers­ten Welt­krieg, vor Augen geführt wird der geis­ti­ge Zustand des “moder­nen Men­schen” (in den wesent­li­chen Punk­ten hat sich in den letz­ten 80 Jah­ren beim west­li­chen Men­schen so viel nicht ver­än­dert) in den Dis­zi­pli­nen Ver­gnü­gungs­sucht, Gier nach Geld, Ober­fläch­lich­keit und reli­giö­ser Wahn. Ent­spre­chend sei­nen Nei­gun­gen wid­met sich der Autor beson­ders letz­te­rem — und inter­es­san­ter als kla­re Bei­spie­le von Bigot­te­rie oder Flucht aus der rau­en Wirk­lich­keit sind ihm hier­bei die Grenz­fäl­le, wo wahr­haf­ti­ge reli­giö­se Gefüh­le und Ahnun­gen von frem­den Ele­men­ten (des Zwei­fels, der Unkennt­nis eige­ner psy­chi­scher Tie­fen­schich­ten…) durch­setzt wer­den und so am Ziel vor­bei­schie­ßen. Wie man trifft, machen auch in die­sem Roman die Hel­den in ihrem Rei­fungs­pro­zess, nach dem Bestehen zahl­rei­cher inne­rer und äuße­rer Kämp­fe vor. Wie schon im “Golem” und dann auch in all sei­nen ande­ren Büchern erfolgt die Ganz­wer­dung (Erlö­sung, Erleuch­tung, Auf­er­ste­hung…) durch die Ver­ei­ni­gung geläu­ter­ter weib­li­cher und männ­li­cher Kraft — “hüben und drü­ben ein leben­di­ger Mensch” sagt Mey­rink zum Schluss, wäh­rend gleich­zei­tig ein Tai­fun das nur welt­li­che Ams­ter­dam in Schutt und Trüm­mer legt.
(aus: http://www.sandammeer.at/zeitloses/meyrink.htm)

Inter­es­sier­te kön­nen sich hier die gemein­freie Guten­berg-Aus­ga­be als PDF herunterladen.
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Ein Jahr spä­ter kehr­te Mey­rink mit sei­nem nächs­ten Roman “Wal­pur­gis­nacht” nach Prag zurück, dies­mal aller­dings nicht in das jüdi­sche Ghet­to, son­dern zum Hradschin und der sog. Klein­sei­te. In den alten Paläs­ten lebt ein deka­den­ter Adel in einer geschlos­se­nen Welt, der mit Ekel auf die Stadt und ihre Bevöl­ke­rung her­un­ter­schaut. Nur der kai­ser­li­che Hof­arzt Thad­dä­us Flug­beil wagt sich hin­un­ter in die Gast­stät­ten der Klein­sei­te oder zu einem Besuch bei “der böh­mi­schen Lie­sel”, einer ver­wahr­los­ten Pro­sti­tu­ier­ten, die einst sei­ne Gelieb­te war.

Im Zen­trum der Erzäh­lung ste­hen zwei jun­ge Men­schen: Poly­xe­na, die Nich­te der Grä­fin Zah­r­ad­ka, und der Musik­stu­dent Otto­kar Vondre­jc, der mit sei­nen Pfle­ge­el­tern im Wär­ter­häus­chen der Dali­bor­ka lebt, aber in Wirk­lich­keit ein unehe­li­cher Sohn der Grä­fin ist.

In der Dali­bor­ka, einem düs­te­ren Gefäng­nis­turm, in dem Gefan­ge­ne dem Hun­ger­tod preis­ge­ge­ben wur­den, tref­fen sich die bei­den zu ihren ero­ti­schen Stell­dich­eins. Gleich­zei­tig ist es aber auch der Treff­punkt einer Ver­schwörer­grup­pe, die sich zum Zie­le gesetzt hat, den para­si­tä­ren Adel auf dem Hradschin end­gül­tig zu ver­nich­ten. In der Wal­pur­gis­nacht kommt es schliess­lich zu einem blu­ti­gen Volks­auf­stand, in den Mey­rink Sagen aus der Zeit der Hus­si­ten­krie­ge und den Pra­ger Auf­stand von 1848 hin­ein­ver­wo­ben hat. Die Revo­lu­tio­nä­re wol­len Vondre­jc zum “König der Welt” krö­nen, doch er wird von der Grä­fin, sei­ner eigent­li­chen Mut­ter, erschossen.

Neben Vondre­jc und Poli­xe­na beherrscht noch eine wei­te­re höchst geheim­nis­vol­le Gestalt die Gescheh­nis­se: Der Schau­spie­ler und Som­nam­bu­le Zrcad­lo, der schliess­lich Selbst­mord begeht und die Auf­rü­her bit­tet, sei­ne Haut auf eine Trom­mel zu span­nen, um die Revo­lu­ti­on anzu­füh­ren, — so wie das laut einer Sage der Heer­füh­rer der hus­si­ti­schen Bewe­gung, Jan Ziz­ka, getan haben soll.

So endet Mey­rinks Roman, der wie eine Sati­re auf den ver­al­te­ten böh­mi­schen Hoch­adel begann, in einer sur­rea­len, grau­sa­men „Wal­pur­gis­nacht“, bei der die Auf­stän­di­schen wie Teu­fel erschei­nen, die vor kei­ner Gewalt­tat zurück­schre­cken. Übrig blei­ben nur Poly­xe­na, die sich irgend­wo in Prag ver­liert und deren wei­te­res Schick­sal der Roman offen lässt, sowie der Kam­mer­die­ner Flug­beils, der end­lich die ver­ges­se­nen Kalen­der­blät­ter abreißt, bis der 1. Juni erscheint. (aus: https://literaturkritik.de)

Ganz schön blu­tig, die Geschich­te! Aber neben der Schil­de­rung der sozia­len Gegen­sät­ze, die in einem alp­traum­haf­ten Fina­le enden, hat Mey­rink auch ganz ande­re Bot­schaf­ten in den Roman ver­wo­ben. Bei einer unheim­li­chen Begeg­nung Thad­dä­us Flug­beils mit dem som­nam­bu­len Zrcad­lo im Hin­ter­zim­mer eines Restau­rants kon­fron­tiert ihn die­ser in Tran­ce auf die Fra­ge hin, wer er eigent­lich sei, mit sei­ner eige­nen Seele:

“Ich bin die unsicht­ba­re Nach­ti­gall, die in dem Käfig sitzt und singt. Aber nicht jedes Käfigs Stä­be schwin­gen mit, wenn sie singt. Wie oft habe ich in dir ein Lied ange­stimmt, daß du mich hören möch­test, aber du warst taub dein Leben lang. Nichts im gan­zen Wel­ten­raum war dir stets so nah und eigen wie ich, und jetzt frägst du mich, wer ich bin? Man­chem Men­schen ist die eige­ne See­le so fremd gewor­den, daß er tot zusam­men­bricht, wenn der Zeit­punkt gekom­men ist, daß er sie erblickt. Er erkennt sie dann nicht mehr, und sie erscheint ihn zum Medu­sen­haupt ver­zerrt; sie trägt das Ant­litz der üblen Taten, die er voll­bracht hat und von denen er heim­lich fürch­tet, sie könn­ten sei­ne See­le befleckt haben. Mein Lied kannst du nur hören, wenn du es mit­singst. Ein Mis­se­tä­ter ist der, der das Lied sei­ner See­le nicht hört – ein Mis­se­tä­ter am Leben, an andern und an sich selbst. Wer taub ist, der ist auch stumm. Schuld­los ist, wer immer­wäh­rend das Licht der Nach­ti­gall hört, und ob er gleich Vater und Mut­ter erschlüge.

Mein Lied ist eine ewi­ge Melo­die der Freu­de. Wer die Freu­de nicht kennt, die rei­ne grund­lo­se freu­di­ge Gewiß­heit, die ursach­lo­se: Ich bin, der ich bin, der ich war und immer sein wer­de –, der ist ein Sün­der am Hei­li­gen Geist. Vor dem Glanz der Freu­de, die in der Brust strahlt wie eine Son­ne am inne­ren Him­mel, wei­chen die Gespens­ter der Dun­kel­heit, die den Men­schen als die Sche­men began­ge­ner und ver­ges­se­ner Ver­bre­chen frü­he­rer Leben beglei­ten und die Fäden sei­nes Schick­sals ver­stri­cken. Wer dies Lied der Freu­de hört und singt, der ver­nich­tet die Fol­gen jeg­li­cher Schuld und häuft nie mehr Schuld darauf.

Wer sich nicht freu­en kann, in dem ist die Son­ne gestor­ben, wie könn­te ein sol­cher Licht verbreiten?

Du frägst, wer ich bin?: Die Freu­de und das Ich sind das­sel­be. Wer die Freu­de nicht kennt, der kennt auch sein Ich nicht. Das inners­te Ich ist der Urquell der Freu­de, wer es nicht anbe­tet, der dient der Höl­le. Steht denn nicht geschrie­ben: ‘Ich’ bin der Herr, dein Gott; du sollst nicht ande­re Göt­ter haben neben mir? –

So man­cher, der’s ver­sucht, frägt: Wor­über soll ich mich freu­en? Die Freu­de braucht kei­nen Grund, sie wächst aus sich selbst wie Gott; Freu­de, die einen Anlaß braucht, ist nicht Freu­de, son­dern Vergnügen. –

So man­cher will Freu­de emp­fin­den und kann nicht – dann gibt er der Welt und dem Schick­sal die Schuld. Er bedenkt nicht: Eine Son­ne, die das Leuch­ten fast ver­ges­sen hat, wie könn­te die mit ihrem ers­ten schwa­chen Däm­mer­schein schon die Gespens­ter­schar einer tau­send­jäh­ri­gen Nacht ver­ja­gen? Was einer sein gan­zes Leben hin­durch an sich sel­ber ver­bro­chen hat, läßt sich nicht gut­ma­chen in einem ein­zi­gen kur­zen Augenblick!

Doch in wen ein­mal die ursach­lo­se Freu­de ein­ge­zo­gen ist, der hat hin­fort das ewi­ge Leben, denn er ist ver­eint mit dem ‘Ich’, das den Tod nicht kennt – der ist immer­dar Freu­de, und wäre er auch blind und als Krüp­pel gebo­ren. – Aber die Freu­de will gelernt sein – sie will ersehnt sein, aber was die Men­schen erseh­nen, ist nicht die Freu­de, son­dern – – der Anlaß zur Freude.

Nach ihm gie­ren sie und nicht nach der Freude.“

Für ein­mal ist bekannt, wer für Mey­rink Quel­le die­ser tie­fen Wahr­hei­ten war: Der Maler und eso­te­ri­sche Schrift­stel­ler Joseph Anton Schnei­der­fran­ken, der unter dem Pseud­onym Bo Yin Ra schrieb und bis heu­te noch gele­sen wird, auch dank der in Basel gegrün­de­ten Stif­tung. Mey­rink hat­te ihn im Früh­jahr 1917 ken­nen­ge­lernt, und es ent­wi­ckel­te sich eine jah­re­lan­ge Freundschaft.

Die Lek­tü­re von “Wal­pur­gis­nacht” weckt im Leser und der Lese­rin ein Wech­sel­bad der Gefüh­le, und es ist die­sem Kri­ti­ker voll und ganz zuzu­stim­men, wenn er schreibt:
Wal­pur­gis­nacht ist ein Genie­streich in Sachen Hand­lungs­füh­rung. Die Mey­rink-For­schung hat immer wie­der dar­auf hin­ge­wie­sen, dass der Autor bei der Kon­struk­ti­on der okkul­tis­ti­schen Ele­men­te sei­ner Wer­ke eklek­tisch vor­ging. Ähn­li­ches lässt sich über den Auf­bau der Hand­lung sagen, die sich aus Ele­men­ten des Schau­er­ro­mans, der Sati­re, ja sogar aus Ver­satz­stü­cken anar­chis­ti­scher Schrif­ten zusam­men­setzt – gezielt hat Mey­rink hier Din­ge inein­an­der­ge­fügt, die eine nach­hal­ti­ge Wir­kung auf das Publi­kum garan­tier­ten. Das Erstaun­li­che dar­an ist, wie her­vor­ra­gend all die­se Ele­men­te mit­ein­an­der har­mo­nie­ren, wie klug die Kom­po­si­ti­on erdacht ist. Jede aben­teu­er­li­che Vol­te, jeden Umschlag der Hand­lung nimmt man bei der Lek­tü­re wider­stands­los hin, sie erschei­nen sogar not­wen­dig. Mey­rinks außer­or­dent­li­cher Stil, sei­ne beein­dru­cken­de Spra­che, die den Golem zu einem sin­gu­lä­ren Ereig­nis mach­ten, tun hier ihr Übriges.

Wer sich jetzt ange­regt fühlt, sich inten­si­ver mit dem Roman aus­ein­an­der­zu­set­zen — hier konn­ten natur­ge­mäss nur ein paar Facet­ten vor­ge­stellt wer­den -, kann sich die gemein­freie Aus­ga­be der “Wal­pur­gis­nacht” zu Gemü­te führen.

In der nächs­ten Fol­ge am kom­men­den Sams­tag, den 19. Febru­ar wer­fen wir noch einen Blick auf die letz­ten bei­den Roma­ne, bevor wir die klei­ne Mey­rink-Saga mit einem Epi­log abschliessen.

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