Ein Mann steht mut­ter­see­len­al­lein auf einer Fels­kup­pe, die den Wald um ihn her­um über­ragt. Dann sagt er:
Ich füh­le mich wie ein gefäll­ter Baum.

Es ist die letz­te Sze­ne im Film “Apenas el sol” — “Nichts als die Son­ne” -, der nur noch für weni­ge Tage im kult.kino came­ra — und spä­ter als Stream — zu sehen ist. Der Mann heisst Mateo Sobo­de Chi­que­no, ein Ayo­reo Indi­ge­ner in Para­gu­ay. Wir ler­nen ihn ken­nen, weil die para­gu­ay­ische Film­re­gis­seu­rin und Wahl­bas­le­rin Ara­mi Ullón ihn über län­ge­re Zeit mit der Kame­ra beglei­tet hat.

Das Schick­sal der Ayo­reo ist das glei­che, wie es vor ihnen Hun­dert­tau­sen­de Indi­ge­ne in den Ame­ri­kas erlit­ten haben: Ers­ter Kon­takt mit den ein­drin­gen­den Weis­sen, Mis­sio­nie­rung, Ent­wur­ze­lung, Dezi­mie­rung, Ausbeutung.

Bis in die 70-er Jah­re leb­ten die Ayo­reo für sich in den Wäl­dern Para­gu­ays. Dann kamen die Mis­sio­na­re ver­schie­dens­ter Pro­ve­ni­en­zen, um ihnen “die fro­he Bot­schaft” und den Segen der fort­schritt­li­chen weis­sen Kul­tur zu brin­gen. Das taten sie wohl mit bes­ter Absicht ohne zu rea­li­sie­ren, mit welch unfass­ba­rer Arro­ganz sie ein funk­tio­nie­ren­des sozia­les und kul­tu­rel­les Netz zerrissen.

Sie brach­ten den Tod in Form von unbe­kann­ten Krank­hei­ten. Sie brach­ten den Tod, weil die sofort nach­rü­cken­den Vieh­züch­ter die Wäl­der abholz­ten und den Ayo­reo schä­bi­ge Behau­sun­gen in einem immer mehr ver­step­pen­den Land hin­ter­lies­sen, und sie brach­ten den kul­tu­rel­len Tod. Erschüt­ternd, wie die Ayo­reo in einer Film­sze­ne in der Kir­che, dem soli­des­ten Gebäu­de in einer Sied­lung, teil­nahms­los die vom Laut­spre­cher ver­zerr­te Stim­me eines Pre­di­gers über sich erge­hen las­sen, der sie auf­mun­tert, die Hoff­nung nicht fah­ren zu lassen …

Vor vie­len Jah­ren fass­te Mateo Sobo­de Chi­que­no einen Ent­schluss. Mit dem weni­gen Geld, das er zusam­men­ge­kratzt hat­te, kauf­te er sich einen alten Kas­set­ten­re­kor­der mit dem Ziel, die Geschich­ten, Lie­der und Zeug­nis­se sei­nes Vol­kes zu sam­meln, bevor sie für immer der Ver­ges­sen­heit anheim fal­len würden.

Ara­mi Ullon hat ihn für eine Wei­le beglei­tet. Ein­drück­lich mit­zu­er­le­ben, wie der alte Ayo­reo sei­nen Lei­dens­ge­nos­sin­nen und Lei­dens­ge­nos­sen behut­sam Fra­gen stellt, Fra­gen nach ihrer Geschich­te, Fra­gen nach ihrer aktu­el­len Befind­lich­keit, Fra­gen nach dem alten Wis­sen, dass sie noch mit sich tra­gen. Noch ein­drück­li­cher, wie reflek­tiert die Ange­spro­che­nen ant­wor­ten. Was haben wir ver­lo­ren, was haben wir gewon­nen? Wol­len wir über­haupt zurück zum alten Leben in den Wäl­dern? Wie gehe ich damit um, dass ich wäh­rend der Ver­trei­bung mei­ne Eltern, mei­ne Brü­der und Schwes­tern ver­lor? Wel­che Sün­den haben wir began­gen, dass wir jetzt hier in die­ser trost­lo­sen Step­pe vegetieren?

Ein Inter­view­part­ner ringt mit sei­nem schlech­ten Gewis­sen, weil er sich damals als Jun­ge von einem Mis­sio­nar ködern liess und ihn zu sei­nem im Wald ver­steck­ten Volk führ­te. Berüh­rend, wie Chi­que­no im begü­ti­gend zure­det. Was gesche­hen ist, ist geschehen.

Berüh­rend auch, wie der alte Ayo­vero sich eines Tages auf­macht, um eine der letz­ten Scha­ma­nin­nen zu besu­chen und sie um ein Hei­lungs­ri­tu­al zu bit­ten. Wäh­rend sie das Ritu­al durch­führt, spricht sie davon, wie sie ihr Bewusst­sein erlebt, — und lässt uns füh­len, wel­che Zer­stö­rung die Mis­sio­na­re mit ihren falsch ver­stan­de­nen Mis­si­ons­feld­zü­gen ange­rich­tet haben.

Ich möch­te immer noch in den Wald zurück. Aber alles Land gehört den Weis­sen, sagt Mateo Sobo­de Chi­que­no am Schluss des Films. Und macht damit die gan­ze Tra­gik und Unge­rech­tig­keit deut­lich, die die Ayo­vero erlit­ten haben und noch erleiden.

Apenas el Sol” ist kein Wohl­fühl-Film. Er for­dert uns auf, auch unse­rer­seits Fra­gen zu stel­len,  — an uns sel­ber, an unse­re Zivi­li­sa­ti­on, unse­re eige­nen reli­giö­sen Über­zeu­gun­gen. Dafür sei Ara­mi Ullón gedankt.

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