Nachdem der kleine Matthew den Grosseltern Marias in Obhut gegeben worden war, stachen die Huxleys am 15. September 1925 von Genua aus in See, — auf in ein neunmonatiges Weltreise-Abenteuer! Auf dem Schiff, schrieb Huxley in seinem Reisetagebuch “Jesting Pilate” sarkastisch, drohe im jeder
mit der Aussicht auf eine “sehr gute Zeit” in Indien. Eine gute Zeit bedeutet, zum Rennen zu gehen, Bridge zu spielen, Cocktails zu trinken, bis vier Uhr morgens zu tanzen und über nichts zu reden. Und in der Zwischenzeit wartet die schöne, die unglaubliche Welt, in der wir leben, darauf, von uns erkundet zu werden, und das Leben ist kurz, und die Zeit fließt unaufhaltsam, wie das Blut aus einer tödlichen Wunde …Der Himmel bewahre mich in einer solchen Welt davor, mich zu amüsieren!
Als das Schiff anfangs Oktober in Bombay einlief, zeigte sich, dass Huxley inzwischen im englischen Empire schon einen gewissen VIP-Status erreicht hatte, denn er wurde von Vertretern der britischen Kolonialherrschaft, von indischen Intellektuellen und Würdenträgern, Journalisten und Politikern empfangen. Es folgten zum Teil anstrengende Reisen kreuz und quer durch Indien. Als Gäste im All India Congress lernten die Huxleys im Dezember den späteren ersten Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru und Mahatma Gandhi kennen:
Einem zufälligen Beobachter, der sich durch die Menge im Kongresszelt bewegte, wäre das Erscheinen von Frau Sarojini Naidu, der Präsidentin des Kongresses, und von Pandit Motilal Nehru, dem Führer “der Swarajist-Partei” aufgefallen. Diese Menschen, so hätte er gesagt, sind irgendwie wichtig; ihre Gesichter verkünden es. Wahrscheinlich hätte er nicht einmal den kleinen Mann im Dhoti mit dem Schal über den nackten Schultern bemerkt; den abgemagerten kleinen Mann mit dem kahlgeschorenen Kopf, den großen Ohren, den eher fuchsigen Zügen; den stillen kleinen Mann, dessen Aussehen nur auffällt, wenn er lacht — denn er lacht mit dem herzlichen Lachen eines Kindes, und sein Lächeln hat einen unerwarteten und jungenhaften Charme. Nein, dem zufälligen Beobachter wäre Mahatma Gandhi wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen.
(Jesting Pilate, p. 99)
Huxley schockierte seine indischen Gastgeber, als er sich angesichts des Taj Mahal in Agra nicht beeindruckt zeigte und sich despektierlich äusserte. Das weltberühmte Grabmal entsprach offensichtlich nicht seinem ästhetischem Geschmack … Die Huxleys ihrerseits waren zutiefst schockiert über die Armut und das Elend, mit dem sie auf ihren Reisen immer wieder konfrontiert wurden. Die Schuld dafür gab Huxley der Weltabgewandtheit des religiösen Denkens der Inder:
Bewunderer Indiens sind sich einig, wenn sie die “Spiritualität” der Hindus loben. Ich kann ihnen nicht zustimmen. Meiner Meinung nach ist die “Spiritualität” (letztlich wohl ein Produkt des Klimas) der ursprüngliche Fluch Indiens und die Ursache all seines Unglücks. Es ist diese Beschäftigung mit “spirituellen” Realitäten, die sich von den tatsächlichen historischen Realitäten des gemeinsamen Lebens unterscheiden, die Millionen und Abermillionen von Männern und Frauen jahrhundertelang mit einem Los zufriedengestellt hat, das eines Menschen unwürdig ist. Ein bisschen weniger Spiritualität, und die Inder wären jetzt frei — frei von fremder Herrschaft und von der Tyrannei ihrer eigenen Vorurteile und Traditionen. Es gäbe weniger Schmutz und mehr Essen. Es gäbe weniger Maharadschas mit Rolls Royce und mehr Schulen. (Jesting Pilate, p. 109)
Und dann setzte er gleich zu einer Ehrenrettung des Materialismus an:
Materialismus — wenn man unter Materialismus die Beschäftigung mit der tatsächlichen Welt, in der wir leben, versteht — ist etwas ganz und gar Bewundernswertes. Wenn die westliche Zivilisation unbefriedigend ist, so liegt das nicht daran, dass wir uns für die wirkliche Welt interessieren, sondern daran, dass die Mehrheit von uns sich für einen so absurd kleinen Teil von ihr interessiert. Unsere Welt ist weit, unglaublich vielfältig und fantastischer als jedes Produkt der Phantasie. Und doch ist das Leben der überwiegenden Mehrheit der Männer und Frauen in den westlichen Völkern eng, eintönig und langweilig.
Wir sind nicht materialistisch genug, das ist das Problem. Wir interessieren uns nicht ausreichend für diese unsere wunderbare Welt. Reisen ist billig und schnell; die unermesslichen Anhäufungen des modernen Wissens liegen auf allen Seiten aufgehäuft. Jeder Mensch, der ein wenig Freizeit und genug Geld für Bahnfahrkarten hat, ja jeder Mensch, der lesen kann, hat es in der Hand, sich selbst zu verherrlichen, die Möglichkeiten seines Daseins zu vervielfachen, sein Leben voll, bedeutend und interessant zu gestalten. Und doch ziehen es die meisten von uns aus unerklärlichen Gründen vor, ihre Freizeit und ihre überschüssigen Energien damit zu verbringen, die Zeit aufwendig, hirnlos und teuer zu vergeuden. Unser Leben ist folglich unfruchtbar und uninteressant, und wir sind uns dieser Tatsache im Allgemeinen nur allzu bewusst. Das Heilmittel ist mehr Materialismus und nicht, wie falsche Propheten aus dem Osten behaupten, mehr “Spiritualität” — mehr Interesse an dieser Welt, nicht an der anderen. (Jesting Pilate, p. 110)
Es ist offensichtlich, dass Huxley hier nicht einem platten Materialismus das Wort redet, sondern dafür plädiert, sich der materiellen Welt vorurteilslos und neugierig zu öffnen. Es ist gerade diese Haltung, die ihm schon wenige Jahre später auch einen neuen vorurteilslosen Blick auf spirituelle Sichtweisen der Schöpfung ermöglichte.
Wir bleiben in der nächsten Folge mit den Huxleys noch etwas in Indien, und dies wie immer am kommenden Samstag, den 30. September.
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Bernard Wirz
Sep 23, 2023
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