Was macht “einen gebo­re­nen Wahr­heits­su­cher” wie Hux­ley aus?
Viel­leicht die Fähig­keit, Lebens­er­fah­run­gen mög­lichst unge­hin­dert von vor­ge­ge­be­nen inne­ren men­ta­len Sche­ma­ta, von Kon­di­tio­nie­run­gen aller Art, von vor­schnel­len Kate­go­ri­sie­run­gen in “gut” oder “schlecht/böse” ein­fach anzu­neh­men, —  die inne­ren Kon­flik­te aus­zu­hal­ten und nichts zu verdrängen.

Hux­ley wur­de zwar schon früh zum reli­giö­sen Skep­ti­ker, aber auch reli­giö­se Ord­nun­gen gin­gen aus sei­ner Sicht auf kon­kre­te Bewusst­seins­tat­sa­chen zurück, näm­lich auf beson­de­re “reli­giö­se” Erfah­run­gen, die Hux­ley in Anleh­nung an den deut­schen Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Rudolf Otto als “numi­nö­se Gefüh­le” bezeich­ne­te. Die­sen aber stan­den gleich­wer­tig Gefüh­le ganz ande­rer Qua­li­tät gegen­über, deren Ratio­na­li­sie­rung zu Kon­zep­ten führ­te, die im unver­ein­ba­ren Wider­spruch zu den reli­giö­sen stan­den.  So kam es zu den ver­schie­de­nen Welt­an­schau­un­gen, die für sich zwar mög­lichst ein­deu­tig, dafür aber gleich­zei­tig ver­däch­tig ein­sei­tig waren. Eine auch nur halb­wegs befrie­di­gen­de, jedoch immer skep­tisch zu hin­ter­fra­gen­de Welt­sicht muss­te auf mög­lichst vie­len Erfah­rungs­tat­sa­chen auf­bau­en. Sie muss­te in der Lage sein, Gegen­sät­ze und Unge­reimt­hei­ten zu akzep­tie­ren, was aber der nach Schlüs­sig­keit stre­ben­den und des­halb selek­tiv ver­fah­ren­den Ver­stan­de­s­tä­tig­keit widersprach. 

Aus die­ser unüber­brück­ba­ren Kluft zwi­schen der unge­fil­ter­ten, bizar­ren Erfah­rungs­viel­falt und dem not­wen­di­ger­wei­se fil­tern­den, ord­nen­den Den­ken ergab sich für den kri­tisch-wach­sa­men Men­schen sein haupt­säch­lich welt­an­schau­li­ches Dilem­ma. Die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit ent­zog sich schlicht­weg die­sem Pro­blem, indem sie vor­schnell die ein­mal abs­tra­hier­te Welt mit der Wirk­lich­keit iden­ti­fi­zier­te, sie als gege­ben annahm und ihr das unmit­tel­ba­re Erle­ben rigo­ros unter­ord­ne­te. Der Skep­ti­ker aber ging den ent­ge­gen­ge­setz­ten, schwie­ri­gen empi­ri­schen Weg, denn er warn­te vor has­ti­gen Kon­zep­ten und öff­ne­te sich der kom­ple­xen Erfahrungswelt. 

Die­sen Weg des Skep­ti­kers ging Hux­ley unbe­irrt ein gan­zes Leben lang. Es ist inter­es­san­ter­wei­se gera­de die­se Hal­tung, die ihn spä­ter die gros­sen spi­ri­tu­el­len Schät­ze der Mensch­heit erken­nen und erfah­ren liess, und die er in sei­nem Buch “Die ewi­ge Phi­lo­so­phie: Phi­lo­so­phia Peren­nis” zusam­men­stell­te.

Doch zurück zu sei­nem Leben:
Im Hin­blick auf die geplan­te Hei­rat mit Maria war es für Hux­ley unab­ding­bar, sich eine soli­de finan­zi­el­le Basis zu ver­schaf­fen. Ein neu­er Ver­such, sich als Leh­rer ‚dies­mal in Eton, zu eta­blie­ren, war von kur­zer Dau­er. Zu sei­nen Schü­lern gehör­ten der spä­te­re His­to­ri­ker Ste­ven Run­ci­man und Eric Blair, der unter sei­nem Pseud­onym Geor­ge Orwell welt­be­rühmt wurde.
Die Schü­ler waren ermahnt wor­den, beson­de­re Rück­sicht auf die star­ke Seh­be­ein­träch­ti­gung und die ver­gleichs­wei­se gerin­ge päd­ago­gi­sche Erfah­rung ihres neu­en Leh­rers zu neh­men. Das hielt natür­lich etli­che von ihnen nicht ab, gera­de die­se Umstän­de gna­den­los für sich aus­zu­nut­zen. Edward Sack­vil­le-West, der renom­mier­te Musik­kri­ti­ker und Roman­cier, erin­ner­te sich spä­ter an sei­ne Zeit als 16-Jäh­ri­ger in Eton:
Armer Aldous! Er muss wohl einer der inkom­pe­ten­tes­ten Leh­rer gewe­sen sein, die jemals vor einer Klas­se gestan­den haben (…). (Es war) unmög­lich, mehr als nur ein gele­gent­li­ches Wort von dem zu ver­ste­hen, was er vor­las oder sag­te, denn der all­ge­mei­ne Tumult war unbeschreiblich.
Ste­ven Run­ci­man hin­ge­gen erin­ner­te sich, dass das Fehl­ver­hal­ten der Schü­ler nach­liess, als sie merk­ten, wie gleich­gül­tig es Hux­ley war und wie wenig es ihn berührte.
Ich erin­ne­re mich noch leb­haft an die­se lang­ge­streck­te, gebeug­te, kurz­sich­ti­ge Gestalt mit einem Gesicht, das viel jün­ger war als das der meis­ten unse­rer Leh­rer [er war drei­und­zwan­zig] und doch irgend­wie alters­los wirk­te, und das gewöhn­lich durch eine unend­li­che Viel­falt von Bril­len­glä­sern ver­deckt war, mit Augen, die fast blind und doch fast unan­ge­nehm auf­merk­sam waren. Er stand da und sah aus wie ein Mär­ty­rer, aber gleich­zei­tig auch außer­or­dent­lich erha­ben. (Bed­ford, S. 89).

Als der ers­te Welt­krieg 1918 ende­te, beschloss die Fami­lie Mari­as, wie­der nach Bel­gi­en zurück­zu­keh­ren, nur um fest­zu­stel­len, dass das Haus und die Fabrik ihres Vaters bei der letz­ten Flan­dern­of­fen­si­ve völ­lig zer­stört wor­den war. Aber Hux­ley ergriff die Gele­gen­heit, Maria in Bel­gi­en zu besu­chen und bei den Eltern offi­zi­ell um ihre Hand anzu­hal­ten. Denn inzwi­schen hat­te er sich als Dich­ter, Essay­ist und Rezen­sent einen Namen gemacht, sodass einer Hei­rat nichts mehr im Wege stand. Er fand in Lon­don eine klei­ne spar­ta­ni­sche, aber preis­wer­te Woh­nung, und am 10. Juli 1919 gaben sich die bei­den im Hôtel de Vil­le in Bel­lem, dem Wohn­ort der Fami­lie Nys, ihr Jawort. Ein neu­es Kapi­tel in Hux­leys Leben begann.

Die nächs­te Fol­ge wie immer am kom­men­den Sams­tag, den 9. September

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