Da der birsfaelder.li-Schreiberling aufgrund diverser Umstände etwas in Zeitnot steckt, erlaubt er sich, die Entwicklungsgeschichte von Aldous Huxley diese Woche zu unterbrechen und einen Zeitsprung in das Jahr 1955 zu machen, als Huxley einen Vortrag mit dem Titel “Wer sind wir?” hielt. Dieser macht deutlich, wie tiefschürfend dessen Fragen und Überlegungen waren zu einer Zeit, als Europa gerade begann, sich zaghaft von einem konservativen religiösen Weltbild zu verabschieden. Hier ein kleiner Auszug:
Mein Thema heute ist “Wer sind wir?”. In seiner Gesamtheit ist dies ein enormes Thema — ein Thema, über das kein einzelner Mensch, am allerwenigsten ich selbst, sprechen kann. Um es in seiner Gesamtheit zu beantworten, müssten wir die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur, seiner belebten und unbelebten Umwelt, zwischen dem einzelnen Menschen und anderen Individuen, Gruppen und ganzen Gesellschaften, zwischen heute und früher lebenden Individuen, den kulturellen Traditionen der eigenen Gesellschaft und anderen Gesellschaften betrachten. Und dies wäre natürlich ein Thema für viele Vorträge, die von vielen Menschen über einen langen Zeitraum hinweg gehalten würden.
Aber worüber ich heute sprechen möchte, ist ein begrenzter Bereich: Was sind wir in Bezug auf unseren eigenen Geist und Körper — oder, da es kein einheitliches Wort gibt, lassen Sie es uns in einer Bindestrichform verwenden — unseren eigenen Geist-Körper? Was sind wir im Verhältnis zu diesem Gesamtorganismus, in dem wir leben?
Nach einer längeren Reflexion über das “Ich” (Ich sage, ich möchte meine Hand heben. Nun, ich hebe sie. Aber wer hebt sie? Wer ist das “Ich”, das meine Hand hebt? „,) und der Tatsache, dass viele unserer Handlungen völlig unbewusst ablaufen, wagt er sich an die zentrale Frage der Beziehung zwischen Bewusstsein/Geist und Gehirn. Seine Position dazu stand — und steht auch heute noch — quer zum akademischen Credo insbesondere in der Neurophysiologie, nämlich dass es unser Gehirn ist, das “Bewusstsein produziert” und das deshalb mit dem physischen Tod für immer erlischt. Dabei knüpfte er an Henri Bergson* und William James** an, die beide der Meinung waren, dass das Bewusstsein, das wir haben, einfach eine Filterung einer Form des universellen oder kosmischen Bewusstseins ist, das zu dem Zweck eingeengt wurde, uns zu helfen, auf der Oberfläche dieses besondern Planeten biologisch zu überleben.
Aber, wie viele Menschen erfahren haben und wie alle Lehrer der großen Religionen darauf bestanden haben, dass dies der Fall sein sollte, können und sollten wir uns öffnen und zu dem werden, was wir in Wirklichkeit von Anfang an immer waren, nämlich allwissend, oder jedenfalls viel mehr wissend, als wir normalerweise glauben zu sein. Wir sollten unsere Identität mit dem erkennen, was James das kosmische Bewusstsein nennt und was im Osten Atman-Brahman genannt wird. Die tiefste Erkenntnis in allen großen religiösen Traditionen ist die Erkenntnis, dass das Endliche das Unendliche in seiner Gesamtheit manifestiert. Dies ist natürlich ein völliges Paradoxon, wenn man es in Worte fasst; dennoch gehört es für viele Menschen — oder zumindest für einige — zu den Tatsachen der Erfahrung, und es sollte für alle eine Tatsache der Erfahrung sein.
Betrachten wir nun ein wenig mehr das Problem, wie wir zu diesem tieferen Selbst in Beziehung stehen. Das oberflächliche Selbst — das Selbst, das wir uns selbst nennen, das auf unsere Namen antwortet und das seinen Geschäften nachgeht — hat die schreckliche Angewohnheit, sich in gewisser Weise für absolut zu halten. Wenn wir es vom metaphysischen Standpunkt aus betrachten, können wir wohl sagen, dass dies eine falsche Einordnung des Absoluten ist. Wir wissen auf eine obskure und tiefe Art und Weise, dass wir in den Tiefen unseres Seins mit dem, was Eckhart “den Grund unseres Seins” nennt — mit dem göttlichen Grund — identisch sind. Und wir wünschen uns, diese Identität zu erkennen. Aber leider neigen wir aufgrund der Unwissenheit, in der wir leben — teils ein kulturelles Produkt, teils ein biologisches und freiwilliges Produkt — dazu, uns selbst, dieses elende kleine Selbst, als absolut zu betrachten. Entweder wir beten uns selbst als solches an, oder wir projizieren ein vergrößertes Bild des Selbst in ein Ideal oder Ziel, das hinter dem höchsten Ideal oder Ziel zurückbleibt, und fahren fort, dieses zu verehren.
Daraus ergeben sich die schrecklichen Gefahren des Götzendienstes. Ich erinnere mich daran, wie ich als Junge in den Zehn Geboten die Warnung vor dem Götzendienst las und mich fragte, warum so viel Aufhebens darum gemacht wird, denn wen kümmert es schon, ob man vor einer Statue den Hut zieht oder nicht! Aber es ist viel tiefgründiger als das. Götzendienst ist in der Tat die Anbetung eines Teils — vor allem des Selbst oder der Projektion des Selbst — als wäre es die absolute Totalität. Und sobald dies geschieht, tritt die allgemeine Katastrophe ein. Nichts ist in der gegenwärtigen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts deutlicher, als dass seine Religion ein götzendienerischer Nationalismus ist.
Es gibt die nominellen Religionen — das Christentum, den Islam, den Hinduismus, den Buddhismus und so weiter; aber wenn man sich fragt, was die Handlungen der Menschen bedeuten, ist es völlig klar, dass die wahre Religion der Nationalismus ist; dass wir den Nationalstaat anbeten; dass wir uns in Wirklichkeit der traditionellen Religionen bedienen, um den Nationalstaat zu stützen; und dass auch die neuen Religionen wie der Kommunismus im Dienste des großen nationalen Götzendienstes stehen. Karl Marx hat einen großen Fehler begangen, als er den Nationalismus unterschätzte. Er scheint sich vorgestellt zu haben, dass unter dem Einfluss der sozialistischen und kommunistischen Lehren die Massen des Volkes den Nationalismus aufgeben würden. Weit gefehlt! Er hat nicht vorausgesehen, was tatsächlich geschehen ist, nämlich dass kommunistische und sozialistische Lehren zu Dienern, zu Instrumenten eines bestimmten Nationalismus geworden sind, so wie es (leider) auch so aussieht, dass das orthodoxe Christentum, der orthodoxe Islam und das orthodoxe Judentum schnell zu Instrumenten ihres jeweiligen westlichen, nahöstlichen oder jüdischen Nationalismus werden. Dies ist eine der großen Tragödien und bestätigt die tiefe Weisheit des Alten Testaments, das den Götzendienst als unsagbare Gefahr verurteilt.
Soweit der Auszug aus dem Vortrag. Wie recht Huxley mit dieser Beobachtung hatte, können wir heute “live” mit Trumps “America First” oder Putins imperialen Träumen eines grossen Russlands erleben ..
* Henri Bergson hat den Begriff des élan vital geprägt.
** William James bleibt mit seinem 1902 erschienenen Werk “Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur” bis heute aktuell.
In der nächsten Folge kehren wir zum frisch verheirateten Huxley zurück, der wenige Monate später mit der Geburt seines Sohnes Matthew auch frischgebackener Familienvater wurde, — dies wie immer am kommenden Samstag, den 16. September.
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