Aldous Huxley hatte inzwischen in Oxford den damals noch neuen Studiengang “Englische Sprache und Literatur” gewählt. Das bedeutete intensive Lektüre, die er entweder mit Braille-Schrift oder mit Hilfe von Atropin und einer grossen Lupe bewältigte.
Neben den Anforderungen des Studiums blieb ihm selbstverständlich genügend Zeit, das schöne Studentenleben in Oxford zu geniessen. Er besuchte Theater- und Musikveranstaltungen, trat der Oxford Union, dem traditionellen Debattierklub, bei und schloss in kurzer Zeit eine Menge neuer Bekanntschaften. Seine Bildung und sein Esprit machten ihn zu einem Favoriten unter den Kommilitonen …: “Alle verehrten Aldous — er faszinierte sie. Er machte einen gewaltigen Eindruck und wurde die beliebteste Person unseres Jahres”,schrieb ein Cousin. (…) Auf seinem Klavier spielte Aldous den Besuchern den neuesten Jazz vor, und seine Unkonventionaliät unterstrich er mit einem grossen und grellen französischen Poster, das eine Strandszene mit nackten dunkelhäutigen Mädchen zeigte.
Entscheidend für seine weitere intellektuelle und emotionale Entwicklung wurde allerdings ein anderer Ort: Garsington Manor in der Nähe von Oxford, wohin er eines Tages eingeladen wurde. Dort betrieb die Aristokratin Lady Ottoline Morrell einen literarisch-künstlerischen Salon, wo sich regelmässig ausgewählte Literaten, Künstler, Philosophen und Kritiker trafen. So lernte er Persönlichkeiten wie den Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell, den Ökonomen John Maynard Keynes, den Lyriker, Dramatiker und späteren Nobelpreisträger T.S. Eliot oder den mit “Lady Chatterleys Lover” berühmt gewordenen Schriftsteller D.H. Lawrence kennen, mit dem ihn trotz ihrer Gegensätzlichkeit bald eine enge Freundschaft verband. Dort kam er auch in Kontakt mit dem Bloomsbury-Kreis, in dem — für die damalige Zeit erstaunlich — mit Polyamorie und Bisexualität experimentiert wurde.
Garsington Manor wurde für ihn so etwas wie eine zweite Heimat. Bald erstreckten sich seine Besuche über ganze Wochenenden, und die Bediensteten nannten einen der Gästeräume “Mr. Huxleys Zimmer”. (…) Garsington avancierte für ihn bei allem Hang zu Klatsch und Tratsch doch zum Inbegriff des modernen, freien Denkens. Aldous sah sich in einem Hort der Loslösung von überkommenen Normen und Vorstellungen, seien sie religiös-metaphysischer, politisch-ökonomischer, künstlerisch-literarischer oder auch sexueller Natur.
Es war auch in Garsington Manor, wo Huxley die Liebe seines Lebens kennenlernte: die Belgierin Maria Nys, die 1915 als Sechszehnjährige zusammen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern auf der Flucht vor dem Grauen des Kriegs nach England gekommen war und von Lady Morrell betreut wurde. Huxley verliebte sich offensichtlich in das junge Mädchen, doch … unerfahren und noch keine 18 Jahre alt, reagierte Maria auf seine zunehmenden Avancen zunächst zögerlich … Allmählich entdeckte Maria tatsächlich ihre tiefe Zuneigung zu Aldous, und retrospektiv hielt sie fest: “Ich spürte, dass ich mich ihm für den Rest des Lebens gänzlich verschreiben würde. Wir waren in der Tat für einander bestimmt.” (Sybille Bedford).
Ihre zukünftige Rolle in Huxleys Leben erfasste sie damit präzise und keineswegs übertrieben. Als Ehefrau und Partnerin sollte sie zugleich seine unermüdliche Vorleserin, Sekretärin, Haushälterin und Chauffeurin werden, seine Bücher für ihn tippen und ungebetene Besucher fernhalten sowie zugleich dafür sorgen, dass er den Kontakt zur Lebenswirklichkeit aufrechterhielt und sich nicht allzu sehr in die isolierte Welt des Intellekts zurückzog. Im Spätsommer 1916 hielt Aldous auf dem Rasen von Garsington Manor um Marias Hand an und schenkte ihr einen Skarabäusring. Sie gelobten sich gegenseitige Treue und schworen, aufeinander zu warten, denn Aldous’ finanzielle Situation war mit einer schnellen Heirat kaum in Einklang zu bringen. Dass dieses Warten zu einer zweijährigen Geduldsprobe werden sollte, ahnten sie damals nicht.
Denn Marias Mutter zog nach Italien weiter und wollte ihre Tochter unbedingt mitnehmen. Aldous seinerseits suchte nach möglichen Einnahmequellen. Ein Versuch als Lehrer in einer public school verlief wenig erfolgreich. Erste Versuche als Dichter zeitigten zwar Erfolge, aber reichten bei bei weitem nicht für ein regelmässiges Einkommen. Dazu kam, dass er in eine eigentliche Sinnkrise geriet:
Der wissenschaftliche Ansatz, der nur das Überprüfbare als wahr akzeptierte, hatte seiner Ansicht nach in seinem beeindruckenden Siegeszug die überlieferte Vorstellung von einer religiösen Weltordnung unterhöhlt, damit die Gegebenheit höherer, absoluter Werte und Bedeutungen infrage gestellt und den Menschen auf sein Erdendasein beschränkt. Werte waren demnach bloss relativer und konventioneller Natur, letztlich womöglich nur eine Fiktion oder ein Hilfsmittel, um das gesellschaftliche Dasein zu organisieren. … Die wissenschaftliche Zuversicht in den Fortschritt der Menschen — quasi die zeitgemässe Alternative zum ehemaligen Vertrauen in einen metaphysischen Gesamtzusammenhang — war durch die katastrophale Kriegserfahrung schwer ins Wanken geraten und unterlag berechtigterweise herber Kritik. (…)
Infolge dieses historischen Ernüchterungsprozesses mehrten sich in intellektuellen Kreisen massiv die Zweifel an den Erkenntnisfähigkeiten des Menschen überhaupt.
Huxley sprach später von einer “Philosophie der Bedeutungslosigkeit” und kam zum Schluss, dass allein die im Bewusstsein präsenten Tatsachen, die den gesamten äusserern und inneren Erfahrungsbereich des Menschen umfassten und aus Sinneseindrücken, Gefühlen, Intuitionen, Trieben oder Stimmungen bestand, … nicht hinterfragt werden (konnten).
Wie Huxley als geborener Wahrheitssucher sich dieser Lebenssituation stellte, erfahren wir in der nächsten Folge am kommenden Samstag, den 2. September.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz / Christentum und Gnosis / Helvetia — quo vadis? / Aldous Huxley