Vielle­icht war es die Begeg­nung mit Krish­na­mur­ti, vielle­icht sein ewig suchen­der Geist nach neuen “inneren Ufern”, dass Hux­ley in seinem Briefwech­sel mit dem älteren Brud­er Julian sich kri­tisch bis resig­niert über den all­ge­meinen Bewusst­sein­szu­s­tand des “Mannes oder der Frau auf der Strasse” äusserte:
Ich füh­le mich häu­fig ein wenig über­wältigt davon, wie selt­sam starr und schw­er nachvol­lziehbar der Grossteil der Men­schen ist. Die meis­ten von ihnen haben etwas trost­los fix­iertes, ver­stein­ertes, sklero­tis­ches — einen Man­gel an Ein­fühlsamkeit, Acht­samkeit und Flex­i­bil­ität, der äusserst deprim­ierend ist. Es scheint, dass man daran nicht viel machen kann auss­er (…) sich selb­st zu einem Fen­ster zu machen, das ein wenig Licht durch­lässt; sich selb­st am Leben zu erhal­ten, so dass wenig­stens ein Punkt in der gewalti­gen Ver­steinerung in der Lage ist zu wach­sen und zu reagieren. (…)

Es sieht so aus, als sei die über­wälti­gende Mehrheit damit zufrieden, auf etwa zwanzig Prozent ihrer poten­ziellen Möglichkeit­en ste­hen­zubleiben. Die Ent­deck­ung von Meth­o­d­en, mit denen man die vollen hun­dert Prozent ver­wirk­lichen kann — das scheint das einzig Vernün­ftige und Kon­struk­tive zu sein, was man in diesem Irren­haus, in das wir hineinger­at­en sind, tun kann.

Hux­ley set­zte diesen Aufruf bei sich immer wieder in die Tat um. So fing er mit einem Augen­train­ing an, das der Auge­narzt William Bates entwick­elt hat­te:
(Sie) sprach, ähn­lich wie F.M. Alexan­ders bewusster Umgang mit dem Kör­p­er den gesamten Seh­prozess an und trainierte das Auge unter Ein­bezug psy­chis­ch­er und hirn­phys­i­ol­o­gis­ch­er Fak­toren. Neben grund­sät­zlich­er Entspan­nung gab es ganz ein­fache Übun­gen, wie das Licht­baden der Augen mit geschlosse­nen Lid­ern, das Abdeck­en mit den Hand­flächen, entspan­ntes Kon­turse­hen, usw.

Zwar wurde die Bates-Meth­ode von Optik­ern als reine Farce abge­tan — Hux­ley ver­mutete, sie wür­den Ein­bussen beim Bril­len­verkauf befürcht­en -, aber er hat­te damit grossen Erfolg:
Angewiesen auf Zweistärken­brillen von 8 und 15 Diop­trien, kon­nte er nach weni­gen Wochen Train­ing seine Brillen bei­seit­elegen. Das Typoskript seines neuen Romans, “Nach vie­len Som­mern”, hat­te er ohne Brille und ohne Ermü­dung bear­beit­et. Im Jan­u­ar 1940 würde er Julian bericht­en kön­nen, dass er zum ersten Mal in sein­er Kind­heit räum­lich sehen könne, also ein Gesamt­bild von bei­den Augen bekomme. Bis zu seinem Lebensende würde er zum Lesen zwar noch Lupen benutzen, aber keine Brille mehr tra­gen.

Hux­ley war so begeis­tert von diesem Erfolg und der Meth­ode, dass er 1942 das Buch “The Art of See­ing” ver­fasste in der Hoff­nung, so zu ihrem Durch­bruch und ihrer Anerken­nung beizu­tra­gen. In seinem Vor­wort hielt er fest, er ver­suche darin,
die Meth­o­d­en der visuellen Erziehung zu den Erken­nt­nis­sen der mod­er­nen Psy­cholo­gie und kri­tis­chen Philoso­phie in Beziehung zu set­zen. Mit­tels dieser Kor­re­la­tion möchte ich aufzeigen, wie sin­nvoll eine Meth­ode grund­sät­zlich sein kann, die lediglich bes­timmte the­o­retis­che, all­ge­mein als gültig anerkan­nte Prinzip­i­en in die Prax­is umset­zt.

Warum, so mag man fra­gen, haben die Schul-Oph­tal­molo­gen nicht schon längst diese all­ge­mein anerkan­nten Prinzip­i­en berück­sichtigt? Die Antwort ist klar: Seit der Zeit, da die Oph­tal­molo­gie zur Wis­senschaft wurde, haben sich die ausüben­den Ärzte auss­chliesslich mit einem Aspekt des ganzen kom­plex­en Sehvor­gangs beschäftigt — mit dem phys­i­ol­o­gis­chen. Sie haben sich auss­chliesslich den Augen zuge­wandt und den men­schlichen Geist, der sich ja der Augen zum Sehen bedi­ent, auss­er acht gelassen. Ich bin von den berühmtesten Kapaz­itäten des Fachs behan­delt wor­den, ohne dass eine einzige auch nur mit ein­er Silbe von einem geisti­gen Aspekt des Sehens gesprochen oder erwäh­nt hätte, dass man Auge und Gehirn auch falsch gebrauchen kann …

Fort­set­zung wie immer am kom­menden Sam­stag, den 2. März

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