Er wäre lieber Faraday als Shakespeare geworden, meinte Huxley später einmal. Schliesslich entwickelte er sich tatsächlich zu einem genuinen Forscher — wenn auch nicht in den Naturwissenschaften — aber auch zu einem elegant und luzide schreibenden Literaten und Kolumnisten — wenn auch nicht gerade zu einem Shakespeare.
Drei Schicksalsschläge in seiner Jugend trugen zu einer raschen Reifung seiner Individualität bei.
Als Vierzehnjähriger wurde er mit dem Tod seiner geliebten Mutter konfrontiert. Julia Huxley, eine fröhliche und vielfach talentierte Frau, die ein paar Jahre zuvor eine florierende Privatschule für Mädchen gegründet hatte, erkrankte plötzlich an einem höchst aggressiven Krebs, dem sie innerhalb weniger Monate erlag.
Später verarbeitete er dieses traumatische Erlebnis in seinem zweiten Roman “Narrenreigen” mit der Figur Theodore Gumbrils:
Er hatte nicht gewusst, dass sie dem Tod so nahe war, aber als er in ihr Zimmer trat und sie so schwach in ihrem Bett liegen sah, da hatte plötzlich unbeherrscht zu weinen begonnen. Alle seelische Kraft, selbst die zu lachen, war auf ihrer Seite gewesen. Und sie hatte mit ihm gesprochen. Es waren nur ein paar Worte, aber in ihnen war alle Weisheit enthalten, die er zum Leben brauchte. Sie hatte ihm klargemacht, was er war und was er versuchen sollte zu werden und wie es zu sein. Und noch immer unter Tränen hatte er ihr versprochen, das zu versuchen. (Rasch/Wagner).
Als 21-Jähriger schrieb Huxley einer Freundin: .. Ich habe gerade wieder gelesen, was mir meine Mutter schrieb, kurz bevor sie starb. Die letzten Worte ihres Briefes waren: “Urteile über andere Menschen nicht zu kritisch, und liebe viel”. Ich beginne mehr und mehr zu erkennen, wie weise ihr Ratschlag war. Es ist eine Warnung vor einem ziemlich eingebildeten und egoistischen Charakter meinerseits, und es ist eine ganze Lebensphilosophie. (Sybille Bedford)
Zwei Jahre darauf traf ihn der nächste Schicksalsschlag: Im Herbst 1910 zog sich Huxley eine Augeninfektion zu, die sich rasch zu einer rasant fortschreitenden Hornhautentzündung in beiden Augen entwickelte. Weil deren Gefährlichkeit zu spät erkannt wurde und es weder Penicillin noch Cortison gab, erblindete er praktisch vollständig und war gerade noch fähig, hell und dunkel zu unterscheiden. Das bedeutete sein Ausscheiden aus Eton und das Platzen all seiner beruflichen Zukunftsträume. Das Schlimmste für ihn war allerdings, dass er nicht mehr lesen konnte.
In Anbetracht der neuen Situation und der düsteren Zukunftsperspektive wäre ein Verharren in Angst und Wut nur allzu verständlich gewesen. Doch es gelang Aldous erstaunlich schnell, Abstand von seinem Leiden zu gewinnen und sich anderen Herausforderungen und Aufgaben zu stellen. … Gervas (sein Cousin) hielt fest: “Was mich am meisten in Erstaunen setzte and Aldous’ Erblindung war die Tapferkeit, mit der er diesem völligen Riss in seinem Leben heiter und gelassen und ohne die geringste Spur von Selbstbedauern standhielt.” Aldous entwickelte eine stoische Grundhaltung, die es ihm ermöglichte, die Dinge zu akzeptieren und mit Bedacht auf sie zu reagieren. (Rasch/Wagner)
Er erlernte in kurzer Zeit die Blindenschrift und brachte sich mit der Braille-Musikschrift sogar das Klavierspielen bei.
… als Gervas seinen Cousin eines kalten Morgens zusammengekauert und mit den Händen unter der Decke im Bett liegen sah, bemerkte jener bloss lapidar: “Brailleschrift hat einen grossen Vorteil:Man kann im Bett lesen, ohne dass einem die Hände kalt werden. (Rasch/Wagner)
Nach zwei Jahren erholte sich ein Auge wenigstens so weit, dass er wieder Normalschrift lesen konnte, — allerdings bis zu seinem Lebensende nur mit einem Vergrösserungsglas. Seine massive Sehbehinderung hatte immerhin einen kleinen Vorteil: Während die meisten seiner Studienkameraden ihr Leben in den flandrischen Schützengräben liessen, erblieb ihm dieses Schicksal erspart.
Die dritte, ihn tief treffende und erschütternde Erfahrung macht er kurz nach seinem 20. Geburtstag. Sein — nach Julian — zweitältester, vier Jahre älterer Bruder Trevenen, mit dem er sich ausserordentlich gut verstand und mit dem er viel Zeit verbrachte, beging Selbstmord. Auslöser war neben der Tatsache, dass dieser den hohen intellektuellen Ansprüchen in der Familie nie ganz genügen konnte, eine unglückliche Liebesgeschichte. Er hatte sich unsterblich in das Hausmädchen seines Vaters verliebt. Aber die damaligen sozialen Konventionen schlossen eine solche Verbindung völlig aus. Schliesslich kamen die beiden zögerlich ein, sich zu trennen. Doch Trevenen fiel mehr und mehr in Depressionen. Während eines Klinikaufenthalts verschwand er spurlos. Man fand ihn ein paar Tage später erhängt in einem Wald. In seiner Jackentasche fand sich ein verzweifelter Brief seiner Geliebten.
Es mag diese Erfahrung gewesen sein, dass Huxley ein Leben lang gegen Spiessertum und gesellschaftliche Borniertheit kämpfte.
In der nächsten Folge begleiten wir die ersten Schritte Huxleys in seinem Erwachsenenleben, und dies wie immer am kommenden Samstag, den 26. August.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz / Christentum und Gnosis / Helvetia — quo vadis? / Aldous Huxley
Max Ziegler
Aug 23, 2023
Grossartig und spannend.
Ich freue mich auf die Fortsetzung.