Die Pra­xis der Nicht-Anhaf­tung schlie­ße die Pra­xis aller Tugen­den ein. Sie beinhal­te neben Mut, Gross­zü­gig­keit und Selbst­lo­sig­keit die Pra­xis der Nächs­ten­lie­be, mein­te Hux­ley in der letz­ten Fol­ge. Die­se sei im 20. Jahr­hun­dert immer wei­ter erodiert.

Was er anschlies­send in sei­nem 1937 erschie­ne­nen Buch schrieb, könn­te aktu­el­ler nicht sein:
Eng ver­bun­den mit dem Rück­gang der Nächs­ten­lie­be ist der Rück­gang des Wahr­heits­be­wusst­seins der Men­schen. Zu kei­ner Zeit der Welt­ge­schich­te wur­de die orga­ni­sier­te Lüge so scham­los und dank der moder­nen Tech­nik so effi­zi­ent und in so gro­ßem Umfang prak­ti­ziert wie von den poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Dik­ta­to­ren des gegen­wär­ti­gen Jahr­hun­derts. Der größ­te Teil die­ser orga­ni­sier­ten Lüge hat die Form von Pro­pa­gan­da, die zu Hass und Eitel­keit ansta­chelt und die Men­schen auf den Krieg vor­be­rei­tet. Das Haupt­ziel der Lüg­ner ist die Aus­rot­tung von Gefüh­len und Ver­hal­tens­wei­sen der Nächs­ten­lie­be auf dem Gebiet der zwi­schen­staat­li­chen Politik.
Hux­ley wäre ange­sichts der tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten, die wir heu­te besit­zen, um in Win­des­ei­le und welt­weit Des­in­for­ma­ti­on, “Fake News” und Halb­wahr­hei­ten zu streu­en, wohl völ­lig geschockt …

Auch die fol­gen­de Beob­ach­tung vor bald 90 Jah­ren trifft für die heu­ti­gen Ver­hält­nis­se den Nagel auf den Kopf:
Das ist die Welt, in der wir uns befin­den — eine Welt, die sich, gemes­sen am ein­zig akzep­ta­blen Kri­te­ri­um des Fort­schritts, ein­deu­tig im Rück­schritt befin­det. Der tech­no­lo­gi­sche Fort­schritt ist rasant. Aber ohne Fort­schrit­te in der Nächs­ten­lie­be ist der tech­ni­sche Fort­schritt nutz­los. In der Tat ist er schlim­mer als nutz­los. Der tech­no­lo­gi­sche Fort­schritt hat uns ledig­lich effi­zi­en­te­re Mit­tel zur Ver­fü­gung gestellt, um rück­wärts zu gehen.
Ohne in über­trie­be­nen Pes­si­mis­mus zu ver­fal­len, ist es doch ein­drück­lich zu sehen, wie zum Bei­spiel die sozia­len Medi­en — zu Beginn als neu­es Mit­tel für eine ver­tief­te sozia­le Kohä­si­on geprie­sen — sich in kur­zer Zeit in gefähr­li­che Mani­pu­la­ti­ons­in­stru­men­te ver­wan­delt haben.

Ein wei­te­rer Punkt: Die Nächs­ten­lie­be kann nur dann zur Ein­heit­lich­keit gelan­gen, wenn die vor­herr­schen­de Kos­mo­lo­gie ent­we­der mono­the­is­tisch oder pan­the­is­tisch ist — es sei denn, es besteht der all­ge­mei­ne Glau­be, dass alle Men­schen “Söh­ne Got­tes” sind oder, in indi­scher Spra­che, dass “du das bist”, tat tvam asi. In den letz­ten fünf­zig Jah­ren gab es einen gro­ßen Rück­zug vom Mono­the­is­mus hin zum Göt­zen­dienst. Die Ver­eh­rung eines ein­zi­gen Got­tes wur­de zuguns­ten der Ver­eh­rung sol­cher loka­ler Göt­ter wie die Nati­on, die Klas­se und sogar das ver­göt­ter­te Indi­vi­du­um aufgegeben. 

Wie kann der Rück­schritt in der Nächs­ten­lie­be, den wir erle­ben und für den jeder von uns in gewis­sem Maße ver­ant­wort­lich ist, auf­ge­hal­ten und rück­gän­gig gemacht wer­den? Wie kann die bestehen­de Gesell­schaft in die von den Pro­phe­ten beschrie­be­ne idea­le Gesell­schaft umge­wan­delt wer­den? Wie kön­nen der durch­schnitt­li­che sinn­li­che Mensch und der außer­ge­wöhn­li­che (und noch gefähr­li­che­re) ver­bit­ter­te Mensch in jene unge­bun­de­nen Wesen ver­wan­delt wer­den, die allein eine Gesell­schaft schaf­fen kön­nen, die wesent­lich bes­ser ist als unse­re eigene? 

Bei der Beant­wor­tung die­ser Fra­gen wer­de ich gezwun­gen sein, eine Viel­zahl von The­men zu behan­deln. Das ist unver­meid­lich, denn die mensch­li­che Tätig­keit ist kom­plex, die mensch­li­che Moti­va­ti­on äußerst gemischt. Die­se Viel­fäl­tig­keit der Gedan­ken, Mei­nun­gen, Zie­le und Hand­lun­gen der Men­schen wird von vie­len Autoren nur unzu­rei­chend aner­kannt. Indem sie das Pro­blem zu sehr ver­ein­fa­chen, ver­ord­nen sie eine zu sehr ver­ein­fach­te Lösung. … Was mei­nen wir, wenn wir sagen, dass wir einen kom­ple­xen Sach­ver­halt “erklärt” haben? Was mei­nen wir , wenn wir von einem Ereig­nis spre­chen, das die Ursa­che für eine ande­re ist? Solan­ge wir die Ant­wort auf die­se Fra­gen nicht ken­nen, wer­den unse­re Spe­ku­la­tio­nen über das Wesen und die Hei­lung von sozia­len Stö­run­gen wahr­schein­lich unvoll­stän­dig und ein­sei­tig sein.

Unse­re Dis­kus­si­on über das Wesen der Erklä­rung bringt uns zu dem Schluss, dass die Ver­ur­sa­chung in mensch­li­chen Ange­le­gen­hei­ten mul­ti­pel ist — mit ande­ren Wor­ten, dass ein bestimm­tes Ereig­nis vie­le Ursa­chen hat. Dar­aus folgt, dass es kein ein­zel­nes, sou­ve­rä­nes Heil­mit­tel für die Krank­hei­ten des Staats­we­sens geben kann. Das Heil­mit­tel für sozia­le Unru­hen muss gleich­zei­tig in vie­len ver­schie­de­nen Berei­chen gesucht wer­den. …  Damit sind wir … bei einer Dis­kus­si­on über das Ver­hält­nis von Mit­teln und Zie­len ange­langt. Gute Zie­le kön­nen, wie ich schon oft betont habe, nur durch den Ein­satz geeig­ne­ter Mit­tel erreicht wer­den. Der Zweck kann die Mit­tel nicht recht­fer­ti­gen, und zwar aus dem ein­fa­chen und offen­sicht­li­chen Grund, dass die ein­ge­setz­ten Mit­tel die Art der erreich­ten Zie­le bestimmen.

In der nächs­ten Fol­ge keh­ren wir zurück zur Schil­de­rung von Hux­leys Leben, schie­ben aber immer wie­der Aus­zü­ge aus sei­nem Buch “Ends and Means” ein, deren Rele­vanz auch heu­te — und gera­de heu­te — aktu­ell bleibt, — und dies wie immer

am kom­men­den Sams­tag, den 10. Februar

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